Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
verabscheue dich.»
    «Marianne», sagte ich, «weißt du nicht mehr, wie innig ich dich liebe?»
    Sie schüttelte den Kopf: «Ich weiß alles», sagte sie. «Ich verabscheue dich.»
    Sie schloß die Lider; einen Augenblick lang schien es, als schliefe sie, doch stöhnte sie im Schlaf.
    Henriette setzte sich neben mich. Sie war eine große Frau mit harten Zügen geworden.
    «Der Atem wird leiser», sagte sie.
    «Ja. Es geht zu Ende.»
    Mariannes Hände verkrampften sich, die Winkel ihres Mundes verzogen ihr Gesicht zu einer Maske des Leidens, des Widerwillens und des Vorwurfs; dann seufzte sie tief auf, ihr Körper entspannte sich.
    «Wie sanft sie gestorben ist», sagte Henriette.
    Zwei Tage später begrub man sie. Mitten auf dem Friedhof war ihr Grab gelegen, nur ein Stein unter Steinen, und unter dem Himmel nur gerade der Raum, den eine Grabstätte braucht; nach der Begräbniszeremonie gingen sie alle fort und ließen Marianne, ihr Grab, ihren Tod hinter sich zurück. Ich blieb allein bei ihr; ich wußte, daß die Tote nicht in dem Grab war; man hatte dort den Leichnam einer alten Frau mit verbittertem Herzen eingesargt; aber Marianne mit ihrem Lächeln, ihren Hoffnungen, ihren Küssen, ihrer Zärtlichkeit blieb stehen am Saum der Vergangenheit; ich sah sie noch vor mir, ich konnte noch mit ihr sprechen, ihr zulächeln, und ich fühlte auf mir noch jene Blicke ruhen, die einst aus mir einen Menschen unter Menschen machten: gleich würde die Tür sich schließen, ich wollte verhüten, daß sie sich endgültig schloß. Ich durfte mich nicht rühren,nichts sehen und nichts hören, ich mußte so tun, als sei die Gegenwart nicht da; ich lag auf der Erde ausgestreckt, die Augen fest geschlossen, und mit Anspannung aller Kraft hielt ich die Tür auf, ich bemühte mich, das Jetzt nicht erstehen zu lassen, damit die Vergangenheit weiterexistierte.
    So ging es einen Tag, eine Nacht und einige Stunden darüber hinaus. Plötzlich erbebte ich; es hatte sich nichts ereignet, aber ich hörte deutlich das Summen der Bienen zwischen den Friedhofsblumen und von weitem her das Brüllen einer Kuh: es drang deutlich zu mir. In meinem Herzen spürte ich einen dumpfen Schlag: es war geschehen, die Tür war zu, und es würde sie niemand mehr durchschreiten können. Ich streckte die steifen Glieder und richtete mich auf dem Ellbogen auf: was würde ich nun tun? Sollte ich mich erheben und einfach weiterleben? Caterina, Antonio, Beatrice, Carlier, alle, die ich geliebt hatte, waren tot, und ich lebte noch; seit Jahrhunderten war ich da; mein Herz konnte wohl einen Augenblick vor Mitleid, Auflehnung, Jammer schlagen; aber ich vergaß. Ich krallte die Finger in den Boden. «Ich will nicht», rief ich verzweifelt aus. Ein sterblicher Mensch hätte sich weigern können, seinen Weg weiterzugehen, er konnte den Widerstand unüberwindlich machen, indem er sich tötete. Ich aber war ein Sklave des Lebens, das mich weiterzog auf der Bahn zu Gleichgültigkeit und Vergessen.
    Als ich in den Garten trat, sah ich, daß eine Hälfte des Himmels voll schwarzer Wolken hing; die andere Hälfte leuchtete in tiefer, klarer Bläue; eine der Wände des Hauses war grau, während die Front in grellem und hartem Weiß erstrahlte; der Rasen wirkte gelb, von Zeit zu Zeit bog ein Windstoß die Bäume und Büsche um, dann war wieder alles völlig unbeweglich. Marianne liebte Gewitter. Konnte ich ihr nicht dazu verhelfen, daß sie durch mich hindurch alles weitererlebte? Ich setzte mich unter den Lindenbaum, an ihrengewohnten Platz. Ich blickte die tiefen Schatten, die grellweißen Flächen an und atmete den Duft der Magnolienbäume; aber Farben und Düfte sprachen nicht zu mir; der Tag war nicht für mich gemacht; er blieb in der Schwebe hängen, er verlangte danach, von Marianne erlebt zu werden. Marianne erlebte ihn nicht, und ich konnte nicht an ihre Stelle treten. Mit Marianne war eine Welt endgültig untergegangen, die nie mehr zum Licht des Tages wieder auftauchen würde. Die Blumen fingen schon an, sich wieder alle zu gleichen, die Farben des Himmels waren durcheinandergebraut, und alle Tage würden nur eine Farbe haben: die Farbe der Indifferenz.
     
    Eine Bedienerin hatte die Tür des Gasthauses aufgemacht und einen Eimer Wasser auf das Pflaster geschüttet; mißtrauisch starrte sie dabei Regine und Fosca an; im ersten Stock hatten Fensterläden geklappt.
    Regine sagte: «Wir werden vielleicht hier einen Kaffee bekommen.»
    Sie gingen ins Haus hinein. Eine

Weitere Kostenlose Bücher