Alle Menschen sind sterblich
gequälter Aufmerksamkeit sah sie mich wieder an.
«Marianne, sieh mich nicht mit solchen Augen an», sagte ich. «Ich bin kein Gespenst.»
«Ein Gespenst», brachte sie langsam hervor, «wäre mir weniger fremd als du.»
«Marianne», sagte ich. «Schau, wir lieben uns doch; nichts auf der Welt kann eine solche Liebe zerstören. Was kann das Vergangene uns machen? Was hängt von der Zukunft ab? Was dir Bompard gesagt hat, ändert doch nichts zwischen uns.»
«Alles hat es geändert, für immer», sagte sie. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und verbarg das Gesicht in den Händen: «Ach, mir wäre lieber, du wärst gestorben!» rief sie aus.
Ich kniete neben ihr nieder; ich zog ihr die Hände vom Gesicht. «Sieh mich an», sagte ich. «Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin es doch, immer noch ich. Ich bin doch kein anderer als bisher?»
«Ach!» rief sie heftig aus. «Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?»
«Hättest du mich dann geliebt?»
«Niemals!»
«Warum nicht?» fragte ich. «Hältst du mich für verdammt? Meinst du, ein Dämon wohne in mir?»
«Ich habe mich dir ganz gegeben», sagte sie. «Ich glaubte, daß auch du mir auf Leben und Tod zugehörig seist. Aber du hast dich nur für ein paar Jahre verliehen.» Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme: «Eine Frau nur unter Millionen anderer Frauen. Eines Tages wirst du nicht einmal mehr meinen Namen wissen. Doch du wirst immer du sein und kein anderer.» Sie erhob sich. «Nein», sagte sie. «Nein. Es ist ganz unmöglich.»
«Meine Geliebte», sagte ich. «Du weißt ganz genau, daß ich dir gehöre. Nie habe ich so sehr jemandem angehört, und nie wieder wird es möglich sein.»
Ich nahm sie in die Arme; mit einer Art von Gleichgültigkeit ließ sie es sich gefallen; sie sah zum Sterben müde aus.
«Höre doch», sagte ich, «höre mich doch an.»
Leise bewegte sie den Kopf.
«Du weißt, daß ich so etwas wie ein Toter war, als du mich kennenlerntest; du erst hast wieder aus mir einen lebendigen Menschen gemacht; wenn du mich eines Tages verläßt, werde ich wieder ein Schatten.»
«Du warst nicht tot», sagte sie und riß sich von mir los. «Und du wirst auch niemals ein bloßer Schatten sein; nicht einen Augenblick aber warst du ein Mensch wie ich. Alles war Betrug.»
«Kein sterblicher Mann könnte mehr durch dich leiden als ich in diesem Augenblick. Keiner hätte dich geliebt, wie ich dich liebe», sagte ich.
«Alles war Betrug», wiederholte sie. «Wir leiden nicht zu gleicher Zeit, und du liebst mich aus dem Grunde einer anderen Welt. Du bist für mich verloren.»
«Nein», sagte ich. «Sondern jetzt erst haben wir uns gefunden, denn jetzt erst werden wir in der Wahrheit leben.»
«Von dir zu mir kann überhaupt nichts wahr sein», sagte sie.
«Meine Liebe ist wahr.»
«Was ist deine Liebe?» sagte sie. «Wenn zwei sterbliche Menschen sich lieben, so sind sie mit Leib und Seele durch ihre Liebe geformt, die ihr Wesen ausmacht. Für dich aber ist sie … ist sie nur etwas Zufälliges.» Sie legte die Hand an die Stirn. «Wie allein ich bin.»
«Auch ich bin allein», sagte ich.
Eine lange Weile saßen wir schweigend nebeneinander; Tränen liefen über ihre Wangen herab.
«Hast du versucht, dir einmal vorzustellen, was mein Geschick wirklich ist?» fragte ich.
«Ja», antwortete sie. Sie sah mich an, und etwas in ihren Zügen gab nach. «Es ist fürchterlich.»
«Willst du mir nicht helfen?»
«Dir helfen?» Sie zuckte die Achseln. «Ich werde dir zehn Jahre helfen oder zwanzig Jahre. Was macht das schon aus?»
«Du vermagst mir Kraft zu geben für Jahrhunderte.»
«Und dann? Dann muß eine andere Frau dir zu Hilfe kommen?» Leidenschaftlich rief sie aus: «Ich wünschte, ich liebte dich nicht mehr.»
«Verzeih mir», sagte ich. «Ich hatte nicht das Recht, dir dies Geschick aufzuerlegen.»
Tränen stiegen von neuem in ihren Augen auf. Sie warf sich in meine Arme und schluchzte wie eine Verzweifelte.
«Und ich kann mir», sagte sie, «nicht einmal ein anderes wünschen.»
Ich schob das Gatter auf und setzte mich auf die Wiese in den Schatten der Rotbuche. Kühe weideten im besonnten Gras, es war ein sehr heißer Tag. Zwischen meinen Fingern zerbrach ich eine leere Bucheckernschale; ich hatte Stunden über meinem Mikroskop zugebracht und empfand es jetzt als angenehm, die Erde anzuschauen. Marianne wartete auf mich unter dem Lindenbaum oder hinter den herabgelassenen Stores des kühlen Salons; fern von ihr
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