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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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unsicher an: «Ich frage mich, weshalb Sie mit solcher Sorge über mich wachen.»
    «Ich habe es Ihnen ja gesagt: Ich habe Ihre Mutter sehr geliebt; darum sind auch Sie mir teuer.»
    Er antwortete mir nicht, aber als wir an einem Schaufenster mit von Flintenkugeln durchlöcherten Spiegelscheibenvorbeikamen, forderte er mich durch eine Bewegung auf, mit ihm stehenzubleiben.
    «Haben Sie niemals bemerkt, wie ähnlich wir uns sind?» fragte er.
    Ich blickte unser Doppelbild an: das unbewegliche Antlitz, das seit Jahrhunderten meines war, und das seine, ganz jung und neu, mit langen schwarzen Haaren, der schmalen Linie des Bartes am Kinn, den eiferheißen Augen; aber die Nase der Fosca war uns beiden gemeinsam.
    «Was denken Sie sich dabei?» fragte ich.
    Er zögerte: «Ich werde es Ihnen später sagen.»
    Wir standen vor dem Geschäftshaus des
‹Progrès›
; eine Horde zerlumpter Gestalten hatte sich auf dem Bürgersteig zusammengerottet; sie warfen ihre Schultern gegen die verschlossene Tür und schrien: «Erschießt die Republikanerbande!»
    «Ach, diese Dummköpfe!» rief Armand.
    «Gehen wir durch die Hintertür», schlug ich Armand vor.
    Wir gingen um das ganze Häuserkarree herum und klopften; ein Schiebefensterchen öffnete sich, dann ging die Tür einen Spaltbreit auf.
    «Kommt schnell herein», sagte Voiron.
    Sein Hemd war offen über der Brust, die von Schweiß nur so troff; er hielt ein Gewehr in der Hand.
    «Versuche Garnier zu bestimmen, daß er das Haus verläßt. Sie wollen ihn ermorden.»
    Armand sprang die Treppe hinauf. Garnier saß im Redaktionsraum an einem Tisch, von einer Gruppe junger Leute umgeben. Sie waren waffenlos. Aus dem unteren Stockwerk drangen die dumpfen Schläge und drohenden Schreie herauf.
    «Worauf wartet ihr?» rief Armand. «Flieht durch die Hintertür.»
    «Nein», antwortete Garnier. «Ich möchte sie empfangen.»
    Er hatte Angst. Ich konnte es an seinem Mundwinkel sehen und an seiner verkrampften Hand.
    «Die Republik braucht keine Märtyrer», sagte Armand. «Ihr werdet euch doch nicht ermorden lassen.»
    «Ich will nicht, daß sie meine Pressen zerstören und meine Papiere verbrennen», sagte Garnier. «Ich will sie hier empfangen.»
    Seine Stimme war fest, sein Blick hart. Aber dennoch spürte ich deutlich die Furcht in ihm. Wäre nicht diese Angst, so hätte er wahrscheinlich nachgegeben und sich davongemacht.
    Hochmütig fügte er hinzu: «Ich halte keinen zurück.»
    «Das stimmt nicht», bemerkte ich. «Sie wissen ganz genau, daß diese jungen Leute Sie nicht verlassen werden.»
    Er blickte um sich und schien zu schwanken. In diesem Augenblick ertönte ein heftiges Krachen, und ein wilder Sturm die Treppe hinauf begann. Sie schrien: «Nieder mit den Republikanern.» Die Glastür öffnete sich, mit gefälltem Bajonett, taumelnd und halb von Sinnen drangen sie bei uns ein.
    «Was wollt ihr?» fragte Garnier in schroffem Ton.
    Sie zögerten einen Augenblick, dann rief einer von ihnen: «Wir wollen deine elende Republikanerhaut.»
    Er sprang vor, und ich hatte gerade noch Zeit, mich vor Garnier zu werfen. Das Bajonett drang tief in meine Brust.
    «Seid ihr denn Mörder?» rief Garnier.
    Seine Stimme schien mir von weit her zu kommen; ich fühlte, wie mein Blut mir das Hemd durchnäßte; eine Art Nebel wogte um mich. Ich dachte: Diesmal sterbe ich vielleicht doch; vielleicht ist das Ende jetzt da. Dann fand ich mich wieder auf einem Tisch ausgestreckt mit einem weißen Verband um die Brust. Garnier redete immer noch, die Männer wichen zur Tür zurück.
    «Machen Sie keine Bewegung», sagte Armand. «Ich hole einen Arzt.»
    «Das ist nicht nötig», erklärte ich. «Die Waffe ist an einem Knochen abgeglitten. Ich habe wirklich nichts.»
    Auf der Straße unter unseren Fenstern riefen sie immer noch: «Schießt die Republikaner tot!»
    Aber die Männer hatten kehrtgemacht, sie gingen die Treppe hinunter.
    Ich stand auf, schob mein Hemd über der Brust zusammen und knöpfte die Weste darüber zu.
    «Sie haben mir das Leben gerettet», sagte Garnier.
    «Danken Sie mir nicht dafür, bevor Sie wissen, was das Leben Ihnen noch bringt.»
    Ich dachte: Der muß nun noch jahrelang mit seiner Furcht weiterleben.
    «Ich gehe nach Hause und ruhe mich aus», sagte ich.
    Armand ging mit mir die Treppe hinunter; ein paar Schritte legten wir schweigend zurück, dann sagte er: «Sie hätten doch tot sein müssen.»
    «Die Waffe ist abgeglitten   …»
    Doch er fiel mir ins Wort: «Kein

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