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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sie zum Cloître Saint-Merri, wo sie sich zu verschanzen planten.
    «Geben Sie Armand Nachricht, daß wir die ganze Vorstadt besetzt haben», sagte Garnier zu mir. «Und daß wir sie so lange wie nötig halten werden.»
    Überall war das Volk dabei, Barrikaden zu errichten; die Männer sägten Bäume ab, die man über den Fahrdamm legte; andere holten Eisenbetten, Tische, Stühle aus den Häusern; Kinder und Frauen schleppten Pflastersteine herbei, die sie aus dem Boden gerissen hatten; alle sangen. Um die Freudenfeuer geschart, sangen die Bauern von Ingolstadt.
    Ich fand Armand im Gebäude des
‹National›
. Seine Augen blitzten vor Freude. Die Aufständischen hatten die Hälfte der Stadt besetzt; sie hatten die Kasernen und Pulvermagazine im Sturm genommen. Die Regierung war entschlossen, die Truppe einzusetzen; aber sie war nicht sicher, ob die Truppe auch zuverlässig sei. Die republikanischen Führer hatten vor, eine provisorische Regierung zu ernennen, an deren Spitze La Fayette stehen sollte; die Nationalgarde würde sich unter ihrem alten Chef willig zusammenscharen.
    «Morgen wird die Republik ausgerufen sein», erklärte Armand.
    Sie beluden mich mit Lebensmitteln und Munition, die ich in das Kloster Saint-Merri bringen sollte, um Garnier zu versorgen. Auf den Straßen pfiffen die Kugeln. Leute versuchten mich an den Straßenecken anzuhalten. «Nicht da hindurch!» riefen sie mir zu. «Da ist eine Barrikade!» Ich achtete nicht darauf. Eine Kugel ging durch meinen Hut, eine andere streifte meine Schulter; aber ich eilte weiter. DerHimmel floh rasch über meinem Kopf dahin, und unter den Hufen meines Pferdes schien die Erde zu tanzen. Ich lief, ich war von der Vergangenheit und von der Zukunft frei, befreit auch von mir selbst und von dem faden Geschmack der Unlust auf meinen Lippen. Etwas völlig Neues existierte für mich: diese Stadt im Taumel, von Blut und Hoffnung erfüllt, und das Herz dieser Stadt schlug in meiner Brust. Wie ein Blitz fuhr es durch mich hindurch: Aber ich lebe ja! Und ebenso blitzschnell dachte ich: Vielleicht zum letztenmal.
    Garnier saß mitten unter seinen Leuten hinter einem Wall von Steinen, Bäumen, Möbelstücken und Mörtelsäcken; oben auf diese Mauer hatten sie grünende Zweige gepflanzt. Sie waren damit beschäftigt, Patronen herzustellen; zum Ausstopfen benutzten sie Fetzen von ihren Hemden und von den Maueranschlägen. Sie alle saßen mit entblößtem Oberkörper da.
    «Ich bringe Patronen», sagte ich.
    Mit Begeisterungsrufen stürzten sie sich auf die Kisten. Garnier blickte erstaunt zu mir auf: «Wie sind Sie durchgekommen?»
    «Es ist mir halt geglückt.»
    Er preßte die Lippen zusammen; er beneidete mich. Gern hätte ich ihm sagen mögen: Nein, es ist eine Ungerechtigkeit: ich bin weder mutig noch feige. Aber dies war nicht der Augenblick, um von mir zu sprechen, und so sagte ich nur: «Die provisorische Regierung wird heute nacht ausgerufen. Ihr sollt hier bis morgen früh aushalten. Wenn sich ganz Paris erheben soll, darf der Aufstand nicht abflauen.»
    «Wir halten stand.»
    «Ist es schlimm hier?»
    «Die Truppe hat zweimal angegriffen. Wir haben sie abgeschlagen.»
    «Viele Tote?»
    «Ich habe sie nicht gezählt.»
    Einen Augenblick lang blieb ich neben ihm sitzen; mit den Zähnen riß er Stücke weißer Leinwand ab, die er geistesabwesend in die Kartuschen stopfte; er war mit den Händen nicht sehr geschickt; er hatte keine Lust, Patronen herzustellen, er hätte lieber gesprochen, ich wußte es. Aber als ich mich wieder erhob, war kein Wort gefallen.
    «Sagen Sie ihnen, daß wir hier die ganze Nacht standhalten.»
    «Ich werde es ihnen sagen.»
    Wiederum glitt ich an den Mauern entlang; ich verbarg mich in Hauseingängen, lief durch den Kugelregen hindurch. Schweißbedeckt kam ich im Gebäude des
‹National›
wieder an, mein Hemd war blutdurchtränkt. Ich dachte an Armands Lächeln; seine Augen würden vor Freude glänzen, wenn ich ihm sagte, daß Garnier die Vorstadt hielt.
    «Ich habe Garnier gesehen. Sie halten aus.»
    Armand lächelte nicht. Er stand vor der Tür des Büros, auf der Schwelle des Forts stand Carlier und schien ins Leere zu starren, er saß im Boot und starrte in den gelben Strom, der von Norden nach Süden floß, ich kannte diesen Blick.
    «Was ist los?» sagte ich.
    «Sie wollen die Republik nicht.»
    «Wer, sie?»
    «Die republikanischen Führer wollen die Republik nicht.»
    Es lag eine solche Verzweiflung in seinem Blick, daß ich

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