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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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hatte. Der Anblick der Dragoner entzündete Zorn in den Herzen, und die Leute rissen im Vorbeigehen Zweige von den Bäumen ab oder hoben Steine auf, um eine Waffe zu haben! Wir zogen an der Place Vendôme vorbei, und die jungen Leute vor dem Wagen nahmen ihren Weg, anders als vorgesehen, um die Säule herum. Jemand hinter mir rief: «Wohin führt ihr uns?», und eine Stimme antwortete: «Zur Republik!» Ich aber dachte bei mir: Zum Aufstand und zum Tode. Was bedeutete denn im Grunde für sie die Republik? Keiner von ihnen hätte sagen können, für welches Ziel er sich in den Kampf begab; aber sie waren sicher, daß es eine Sache von hohem Wert war, denn sie wollten sie ja mit ihrem Blut erkaufen. Ich sagte: «Was ist Rivello?» Aber es war nicht Rivello, wonach Antonio verlangte,sondern es war der Sieg; er war für den Sieg gestorben, und er hatte ihn, als er starb! Sie gaben ihr Leben her, damit es ein menschenwürdiges Leben wäre – nicht Ameisen, nicht Eintagsfliegen, nicht Steinblöcke, wir werden uns nicht in Steine verwandeln lassen   –, die Scheiterhaufen flammten, und sie sangen dabei. «Bleibe ein Mensch unter Menschen», hatte Marianne gesagt! Aber wie? Ich konnte wohl neben ihnen marschieren, aber ich konnte nicht wie sie mein Leben wagen.
    Als wir auf den Bastille-Platz kamen, liefen uns die Polytechniker entgegen, barhäuptig und halb bekleidet; sie waren ausgerissen trotz ihren Instruktionen. «Hoch die Polytechniker! Hoch die Republik!» fing das Volk zu schreien an. Die Musik, die dem Sarg voranging, begann die
‹Marseillaise›
zu spielen. Es hieß, ein Offizier vom 12.   Regiment habe den Studenten gesagt: «Ich bin Republikaner», und diese Neuigkeit ging von Mund zu Mund den ganzen Zug entlang. «Die Truppe ist für uns.»
    Am Pont d’Austerlitz kam der Zug zum Stehen. Eine Rednertribüne war errichtet worden, und La Fayette bestieg sie, um eine Rede zu halten. Er sprach von General Lamarque, den wir beisetzen wollten. Andere sprachen nach ihm; aber niemand hörte auf diese Reden oder dachte an den Offizier, der gestorben war.
    «Da drüben auf der anderen Seite der Brücke ist Garnier», sagte Armand.
    Sein Blick durchforschte die Menge, aber es war unmöglich, ein Gesicht zu erkennen.
    «Jetzt muß etwas geschehen», sagte Spinelli.
    Alles wartete, niemand wußte, auf was. Plötzlich sah man einen Mann vorbeireiten, der eine schwarze Fahne trug, auf der oben eine phrygische Mütze saß; es entstand Unruhe; die Leute sahen sich unsicher an, und Stimmen erhoben sich: «Keine rote Fahne!»
    «Es ist ein Manöver, es ist Verrat», rief Spinelli aus, er stotterte vor Zorn. «Sie wollen das Volk einschüchtern.»
    «Glauben Sie?»
    «Ja», meinte auch Armand. «Die Truppe und die Municipalgarden haben Angst vor der roten Fahne. Das Volk spürt, daß sich da eine Wendung vollzieht.»
    Wir warteten noch einen Augenblick; dann sagte er entschieden: «Hier wird sich gar nichts zutragen! Gehen Sie doch zu Garnier und sagen Sie ihm, er solle selbst das Signal geben. Kommen Sie dann zum
‹National›
. Ich werde dort versuchen, die republikanischen Führer zusammenzubringen.»
    Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge. Garnier fand ich an der Stelle, die wir im Laufe der Nacht nach dem Plan festgelegt hatten; er trug ein Gewehr über der Schulter; die Straßen hinter ihm waren von düsterblickenden Gestalten erfüllt, die gleichfalls Gewehre trugen.
    «Alles ist bereit», sagte ich. «Die Leute sind reif für den Aufstand. Aber Armand wünscht, daß Sie das Zeichen geben.»
    «Gut.»
    Ich blickte ihn schweigend an. Wie jeden Tag und jede Nacht hatte er Furcht, ich wußte es, Furcht vor dem Tode, der sich gegen seinen Willen auf ihn stürzen und ihn in Staub verwandeln würde.
    «Die Dragoner!»
    Über der schwarzen Menschenmenge sah man ihre Helme und Bajonette blitzen; sie sprengten auf den Quai Morland mit Richtung auf die Brücke. Garnier rief: «Sie kommen auf uns zu!» Er ergriff sein Gewehr und schoß. Im gleichen Augenblick gingen rings um ihn her weitere Schüsse los, und es erhob sich ein Geschrei: «Auf die Barrikaden! Zu den Waffen!»
    Barrikaden erstanden. Aus allen Nachbarstraßen strömten bewaffnete Männer. Von einer riesigen Truppe gefolgt,lenkte Garnier seine Schritte auf die Kaserne in der Rue Popincourt zu. Wir stürmten gegen sie an, und die Soldaten gaben nach geringem Widerstand nach. Wir erbeuteten 1200   Gewehre, die an die Aufständischen verteilt wurden. Garnier führte

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