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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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als auf allen Plätzen Freudenfeuer lohten. Pietro degli Abruzzi hatte Bertram Rienzi auf den Stufen seines Palastes erdolcht, und die Menge trug ihn im Triumph auf den Schultern daher. Von dem Balkon herab hielt er eine Ansprache und versprach dem Volk Linderung aller Leiden. Die Gefängnistore taten sich auf, die Magistratsbeamten wurden abgesetzt, die Partei der Rienzi aus der Stadt verjagt. Mehrere Wochen hindurch tanzte man auf den Plätzen, man sah lachende Mienen, und bei meinem Vater sprach man wieder ohne Heimlichkeit. Mit Bewunderung schaute ich Pietro degli Abruzzi an, der das Herz eines Menschen mit einem wirklichen Dolch durchbohrt und seiner Vaterstadt die Freiheit gegeben hatte.
    Ein Jahr später legten die Nobili von Carmona wieder die schweren Rüstungen an und sprengten durch die Ebene: auf Betreiben der Exilpartei hatten die Genueser ihre Gemarkungen heimgesucht. Sie rieben unsere Streitmacht auf, und Pietro degli Abruzzi fiel unter einem Lanzenstoß. Unter der Herrschaft Orlando Rienzis wurde Carmona zur Vasallenstadt Genuas. Zu Beginn jeder Jahreszeit fuhren mit Gold beladene Wagen von der Piazza ab, und mit Wut im Herzen sahen wir sie entschwinden nach dem Meere zu. Tag und Nacht sausten die Webstühle in den düsteren Winkeln der Werkstätten von Carmona, und dennoch kamen die Bürger der Stadt mit bloßen Füßen einher und in durchlöcherten Kleidern.
    «Kann man denn nichts tun?» fragte ich.
    Mein Vater und Gaetan d’Agnolo schüttelten schweigend den Kopf; drei Jahre lang stellte ich jeden Tag dieselbe Frage, und immer schüttelten sie den Kopf. Endlich lächelte Gaetan d’Agnolo.
    «Vielleicht», sagte er, «vielleicht kann man doch etwas tun.»
    Orlando Rienzi trug unter seinem Wams einen Kettenpanzer. Er verbrachte beinahe alle seine Tage hinter dem vergitterten Fenster seines Palastes; wenn er ausging, begleitete ihn eine Wache von 20   Mann. Diener kosteten den Wein in seinem Becher, das Fleisch auf seinem Teller vor. Als er jedoch eines Sonntag morgens im Dom die Messe hörte, stürzten sich vier junge Leute, die seine Soldaten bestochen hatten, auf ihn und schnitten ihm die Kehle ab: es waren Jacopo d’Agnolo, Leonardo Vezzani, Ludovico Pallaio und ich. Sein Leichnam wurde auf dem Platz vor der Kirche der Menge hingeworfen, die ihn in Stücke zerriß, während das Vesperglöckchen erklang. Da erschienen auf einmal die Bürger von Carmona bewaffnet in den Straßen. Die Genueser und ihr Anhang wurden umgebracht.
    Mein Vater lehnte es ab, die Macht zu übernehmen, und so erhoben wir Gaetan zum Oberhaupt unserer Stadt. Er war ein redlicher, kluger Mann. Im geheimen hatte er mit dem Condottiere Pietro Faenza verhandelt, dessen Armeen sich nun sogleich um unsere Mauern scharten. Auf diese Söldnertruppen gestützt, erwarteten wir den Feind in gewappneter Ruhe. Zum erstenmal in meinem Leben nahm ich an einer richtigen Männerschlacht teil. Die Toten standen nicht wieder auf, die Besiegten wurden versprengt und suchten ihr Heil in der Flucht, und jeder meiner Lanzenstöße trug zu Carmonas Rettung bei. An jenem Tage wäre ich frohen Herzens gestorben in der Gewißheit, meiner Vaterstadt eine glorreiche Zukunft zu schenken.
    Tagelang flammten die Freudenfeuer auf allen Plätzen, man tanzte im Freien, und Prozessionen zogen mit Te-Deum-Gesang rund um die Wälle der Stadt. Dann aber fingen die Weber wieder zu weben an, die Bettler bettelten, die Wasserträger liefen wieder, mit schweren Schläuchen beladen,in den Gassen umher. Das Korn gedieh nicht gut in dem verwüsteten Land, und das Brot war schwarz, von dem das Volk sich ernährte. Die Bürger trugen jetzt Schuhe und Röcke aus neuem Tuch, die alten Magistratspersonen waren durch neue ersetzt; doch sonst war in Carmona alles beim alten geblieben.
    «Gaetan d’Agnolo ist zu alt», sagte Leonardo oft ungeduldig zu mir. Leonardo war mein Freund; er zeichnete sich in allen Körperübungen aus, und ich spürte in ihm etwas von dem Feuer, das mich selbst verzehrte.
    Eines Abends, bei einem Bankett, zu dem Gaetan uns eingeladen hatte, nahmen wir den Alten fest und zwangen ihn, abzudanken. Er wurde samt seinem Sohn verbannt; Leonardo Vezzani übernahm die Macht.
    Das Volk hatte sich längst nichts mehr von Gaetan versprochen; mit Freuden sah es wieder einen Hoffnungsschimmer. Die alten Magistratspersonen wurden durch neue ersetzt, und auf allen Plätzen tobten Freudenfeste. Es war Frühling, in der Ebene blühten die Mandelbäume, und niemals

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