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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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hatte der Himmel in solcher Bläue gestrahlt. Oft ritt ich die Hügel hinauf, die den Blick versperrten, und sah auf das Grün und Rosa der weiten Fläche hinab, die erst am Rand einer neuen Hügelkette wieder ihr Ende nahm. Ich dachte: Hinter diesen Hügeln liegen andere Ebenen und wieder andere Hügel. Und dann blickte ich zu Carmona auf, das auf dem Felsen starrte, von seinen acht stolzen Türmen flankiert: hier schlug das Herz der weiten Welt, und bald würde meine Vaterstadt ihr großes Geschick erfüllen.
    Die Jahreszeiten gingen vorbei, und wieder blühten die Mandeln. Festliche Aufzüge wogten unter dem blauen Himmel einher; aber kein Brunnen sprudelte auf den Plätzen Carmonas, die alten Gemäuer standen noch, und die breiten Straßen mit dem glatten Boden, die schmucken weißen Paläste blieben Gebilde meines Traums.
    Ich fragte Vezzani: «Worauf wartest du?»
    Er sah mich verwundert an: «Ich warte auf nichts.»
    «Worauf wartest du, um zu handeln?»
    «Habe ich nicht gehandelt?» fragte er zurück.
    «Warum hast du die Macht ergriffen, wenn du nichts damit anfangen willst?»
    «Ich habe sie ergriffen, und ich habe sie; das ist mir genug.»
    «Ach!» rief ich leidenschaftlich aus. «Wenn ich an deiner Stelle wäre!»
    «Und was tätest du dann?»
    «Ich würde für Carmona mächtige Bundesgenossen gewinnen, ich würde Kriege führen, unser Gebiet erweitern, ich würde Paläste bauen   …»
    «Das würde sehr viel Zeit erfordern», gab Vezzani zurück.
    «Aber du hast doch Zeit.»
    Sein Gesicht wurde plötzlich ernst: «Nein. Du weißt es wohl.»
    «Du bist beim Volk beliebt.»
    «Ich werde nicht lange beliebt sein.» Er legte seine Hand auf meine Schulter. «Um diese großen Unternehmungen wirklich gut durchzuführen, würde man Jahre brauchen! Und wie viele Opfer müßte man von den Leuten verlangen! Sie würden mich bald hassen und am Ende ermorden.»
    «Dagegen kannst du dich schützen.»
    «Ich möchte es nicht machen wie Franz Rienzi», sagte er. «Im übrigen weißt du, daß alle Vorsicht vergeblich ist.» Er lächelte auf die Weise, die ich so gern an ihm mochte: «Ich fürchte nicht den Tod. Wenn ich einmal sterbe, habe ich wenigstens ein paar Jahre gelebt.»
    Er hatte die Wahrheit gesagt: er war ein Gezeichneter; zwei Jahre später ließ Goffredo Massigli ihn durch seine Sbirren erdrosseln; das war ein listenreicher Mann, der sich die Nobili von Carmona zu verbinden wußte, indem er ihnenVorteile gab; er regierte nicht besser noch schlechter als ein anderer; aber wie sollte man jemals hoffen, daß ein einziger Mann die Stadt so lange beherrschen würde, daß er sie zu Wohlstand und zu Ruhm führen könnte?
    Mein Vater wurde alt; er wünschte, daß ich mich verheiratete, solange er noch auf dieser Welt wäre und seinen Enkelkindern würde zulächeln können. Ich vermählte mich mit Caterina d’Alonzo, einem schönen, frommen Edelfräulein, dessen Haare leuchteten wie gesponnenes Gold; sie schenkte mir einen Sohn, den wir Tankred nannten. Kurz darauf starb mein Vater. Er wurde auf dem Friedhof bestattet, der oberhalb von Carmona lag; ich sah dem Sarg nach, wie er in jene Grube glitt, in der mein eigener verdorrter Körper ruhte, meine unnütze Jugend, und es legte sich wie ein Band um mein Herz. Werde ich sterben wie er, ohne etwas vollbracht zu haben? Sooft ich an den folgenden Tagen Goffredo Massigli vorbeireiten sah, krampfte sich meine Hand um den Griff meines Schwertes; aber ich dachte: Es hat keinen Zweck; sie werden mich auch nur töten.
    Zu Beginn des Jahres 1311 zogen die Genueser gegen Florenz in den Kampf; sie waren reich, mächtig und von Ehrgeiz verzehrt; sie hatten Pisa unterworfen, nun wollten sie sich zu Herren machen über ganz Oberitalien, und ihre anmaßenden Pläne gingen vielleicht noch darüber hinaus. Sie wünschten ein Bündnis mit uns, damit sie um so leichter Florenz zermalmen und uns unterjochen könnten: sie forderten Mannschaften, Pferde, Getreide, Futtermittel und freien Durchzug durch unser Gebiet. Goffredo Massigli empfing ihren Gesandten mit großem Pomp; es hieß, die Genueser seien bereit, seine Hilfe mit Gold aufzuwiegen, und er war ein begehrlicher Mann.
    Am 12.   Februar um zwei Uhr nachmittags, als ein prächtiges Gefolge den Genueser Abgesandten in die Ebene geleitete und Goffredo Massigli auf seinem Pferde unter meinemFenster vorbeikam, traf ihn ein Pfeil mitten ins Herz: ich war in ganz Carmona der beste Bogenschütze. Im gleichen Augenblick hatten sich

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