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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mich und Beatrice hinter mich; mit ihren kleinen Ärmchen faßte sie mich um den Gürtel, wir ritten im Galopp den Hügel hinauf, im Galopp durch das Tal, und Sternschnuppen regneten über unsere Häupter hin; die Kinder stießen Freudenschreie aus. Ich drückte Antonio fest an mich.
    «Ihr müßt nicht heimlich ausgehen», sagte ich. «Man muß nichts heimlich tun. Bitte mich um alles, was du haben möchtest: du wirst es gewiß bekommen.»
    «Ja, Vater», sagte er mit gefügiger Stimme.
    Am nächsten Tag schenkte ich beiden ein Pferd, und oft in milden Nächten nahm ich sie mit mir auf einen Ritt. Ich ließeine Barke bauen mit orangegelben Segeln, um sie auf dem See von Villamosa darin spazierenzufahren, an dem wir oft vorüberkamen während der heißen Monate. Ich gab mir die größte Mühe, allen ihren Wünschen zuvorzukommen. Wenn sie des Spielens müde waren, wenn sie nicht mehr schwimmen, reiten, laufen mochten, so setzte ich mich zu ihnen in den heißen Schatten der Pinien und erzählte Geschichten. Antonio wurde nicht müde, mich nach der Vergangenheit von Carmona zu fragen; er sah mich voller Staunen an.
    «Und was werde ich tun, wenn ich groß bin?» fragte er.
    Ich lachte. «Alles, was du willst.»
    Beatrice sagte nichts. Sie hörte mit ihrer üblichen verschlossenen Miene zu. Sie war ein kleiner Wildling mit langen Spinnenbeinen. Nur Verbotenes reizte sie; stundenlang war sie verschwunden, und dann fanden wir sie auf einem Dach sitzend oder beim Schwimmen in einem zu tiefen See, oder patschend im Mist eines Bauernhofes oder am Boden liegend quer über einem Weg, weil sie auf einem zu feurigen Pferd hatte reiten wollen.
    «Du sonderbare kleine Person!» sagte ich zu ihr und strich ihr über die Haare. Sie schüttelte widerspenstig den Kopf, sie mochte nicht, daß ich sie berührte; wenn ich mich zu ihr beugte, um sie zu küssen, wich sie zurück und hielt mir würdevoll ihre Rechte hin.
    «Gefällt es dir hier nicht? Bist du nicht gerne hier?»
    «O doch.»
    Sie hatte keine Ahnung davon, daß sie ganz anders hätte leben können, mit Wäschewaschen beschäftigt oder mit Unkrautjäten; aber wenn ich sie eifrig über ein Buch gebeugt sitzen oder auf einen Baum klettern sah, sagte ich mir voller Genugtuung: ich habe ihr Schicksal geformt. Aber noch fröhlicher schlug mein Herz, wenn ich Antonios Lachen hörte und mir sagen konnte: er verdankt mir sein Leben, er verdankt mir die Welt.
    Antonio liebte das Leben; er liebte die Gärten, die Seen, die Frühlingsmorgen, die Sommernächte, aber auch Bilder, Bücher, Musik; mit sechzehn Jahren war er fast so gelehrt wie seine Lehrmeister selbst, und er verfaßte Verse, die er zur Laute sang. Nicht weniger liebte er Übungen körperlicher Geschicklichkeit: Jagd, Lanzenstechen, Turniere; ich wagte sie ihm nicht zu verbieten, aber der Atem stand mir oft still, wenn ich ihn hoch oben vom Felsen in den See tauchen sah oder wie er mit einem Satz einem unzugerittenen Pferd auf den Rücken sprang.
    Eines Abends saß ich in Villamosa in meiner Bibliothek und las, als Beatrice eilig zu mir trat; ich war erstaunt, denn niemals sprach sie mich an, ohne daß ich sie rufen ließ. Sie war totenblaß.
    «Was ist los?»
    Ihre Hände krampften sich in den Stoff ihres Kleides; sie sah aus, als kämpfe sie gegen etwas an, woran sie zu ersticken drohte.
    «Antonio wird gleich ertrinken», rang es sich endlich aus ihr hervor. Ich lief zur Tür, und sie murmelte noch: «Er hat durch den See schwimmen wollen, und er kommt nicht zurück. Ich selber kann ihn nicht retten.»
    In einer Minute war ich am Ufer des Sees, hatte die Kleider abgeworfen und stürzte mich in die Flut; es war noch hell, ich erblickte bald einen dunklen Fleck in der Mitte des Sees. Antonio lag auf dem Rücken; als er mich bemerkte, stöhnte er und schloß die Augen.
    Er war ohnmächtig, als ich ihn an das Ufer brachte; ich streckte ihn auf meinem Mantel aus und rieb ihm kräftig die Glieder; ich fühlte, wie die Wärme meiner Hände in seinen Körper drang, unter meiner Handfläche fühlte ich seine jungen Muskeln, seine zarte Haut, seine zerbrechlichen Knochen, und es schien mir, als bilde ich ihm einen neuen Körper. Mit aller Inbrunst dachte ich: ich werde immer da sein,um dich zu retten vor allem, was dich bedroht. Zärtlich trug ich in meinen Armen meinen Sohn nach Hause, dem ich zum zweitenmal das Leben gegeben hatte.
    Beatrice stand auf der Schwelle der Tür, aufrecht, unbeweglich, aber Tränen rannen ihr über

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