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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Häfen sich ergießt. Wollen Sie aus Mitleid mit den Wilden Ihre deutschen Bauern zum Hungertod verdammen?»
    Er antwortete mir nicht. Noch niemals hatte er eine so schwerwiegende Entscheidung treffen müssen. Ich wußte, was für eine kurze, bedeutungslose Sache das Leben eines Menschen war; keinesfalls würde sich in hundert Jahren noch eines dieser elenden Geschöpfe, um deren Los sich Karl solche Sorgen machte, seiner Leiden erinnern: in meinen Augen waren sie schon tot. Doch ihm fiel der Entschluß, sie um ihr Leben zu bringen, nicht leicht; er maß ihre Freuden und Leiden nach seinem eigenen Maß. Entschlossen trat ich auf ihn zu.
    «Glauben Sie denn, Sie könnten in dieser Welt jemals Gutes erreichen, ohne Böses zu tun? Man kann niemals gerecht für alle sein und aller Wohl betreiben. Wenn Sie zu weichherzig sind, um die nötigen Opfer zu bringen, täten Sie besser, ins Kloster zu gehen.»
    Er preßte die Lippen zusammen. Etwas Hartes und Kaltes blitzte unter seinen halbgeschlossenen Lidern hervor; er liebte die Welt, er liebte den Luxus und die Macht. Schließlich sagte er: «Ich will herrschen, ohne jemandem ungerechtfertigte Unbill zuzufügen.»
    «Können Sie etwa herrschen ohne Krieg und ohne Schafott? Man muß den Dingen doch einmal ins Auge sehen!» erklärte ich mit Härte. «Sie werden viel Zeit damit sparen: auch der beste der Fürsten hat immer Hunderte von Toten auf dem Gewissen.»
    «Es gibt gerechte Kriege und Unterdrückung, die notwendig ist», sagte er.
    «Sie müssen selbst Ihre Rechtfertigung für das Böse, das Sie einzelnen antun, in dem Werk finden, das Sie zum Wohle aller vollbringen», gab ich zu bedenken.
    Ich schwieg einen Augenblick. Ich konnte ihm nicht einfach in meiner Sprache sagen: ein Leben, tausend Leben sind nicht gewichtiger als ein Flug Eintagsfliegen; jedoch die Straßen, die Städte, die Wasserwege, die wir erbauen wollen, werden in Ewigkeit das Antlitz der Erde zeichnen; für alle Zeiten werden wir einen Kontinent der Düsternis seiner Urwälder und seiner abergläubischen Vorstellungen entrissen haben. Ihm mochte jene auf Erden verwirklichte Zukunft nichts bedeuten, da er sie ja nicht mehr mit eigenen Augen würde sehen können. Immerhin kannte ich die Worte, die geeignet waren, in seinem Herzen ein Echo zu finden.
    «Diesen armen Wilden», sagte ich, «legen wir nur zeitliche Leiden auf. Dafür bringen wir ihnen, ihren Kindern und Kindeskindern ewige Wahrheit und ewiges Heil. Wenn diese unwissenden Völkerschaften in den Schoß der Kirche aufgenommen sind bis an das Ende der Zeiten, werden Sie dann nicht gerechtfertigt sein, Cortés geholfen zu haben?»
    «Es gibt solche, die durch unsere Schuld im Stande der Todsünde sterben», brachte er dagegen vor.
    «Das wären sie auf alle Fälle mit ihrem Götzendienst und allen Scheußlichkeiten.»
    Karl ließ sich in einen Sessel fallen: «Es ist nicht leicht, zu herrschen», sagte er.
    «Tun Sie niemals unnütz das Böse», sagte ich. «Mehrkann Gott von einem Kaiser nicht verlangen. Er weiß wohl, daß das Böse manchmal notwendig ist: hat er es doch selber geschaffen.»
    «Ja», sagte er. Gequält sah er mich an: «Ich möchte sicher sein», sagte er.
    Ich zuckte die Achseln: «Das werden Sie niemals sein.»
    Er seufzte und machte sich schweigend an seiner Kette zu schaffen: «Es ist gut», sagte er. «Es ist gut.»
    Er stand auf und schloß sich in seiner Kapelle ein.
     
    «Diese Stadt ist von Sinnen», sagte ich, indem ich mich aus dem Fenster beugte.
    Es hatte am Abend zuvor begonnen, in jenem Augenblick, als die Karosse mit den gewundenen Säulen und den schweren Ledervorhängen ihren Einzug gehalten hatte; zu Tausenden waren sie ihr entgegengeeilt: Bauern, Handwerker, Händler, zu Pferde oder zu Esel; beim Ton von Dudelsäcken, von Glocken und von Trommeln waren sie durch das Nordtor der Stadt hereingekommen. Die Herberge der Johanniterritter war voll von Männern, Frauen, Priestern, Notabeln, die sich auf den Gängen und Treppenstufen drängten. Auf den Dächern hockten junge Leute, Kinder, doch auch Männer in gesetztem Alter. Als der Mönch seinen Wagen verlassen hatte, war die Menge ihm heulend entgegengestürzt: Frauen hatten sich auf die Knie geworfen und den Rand seines schmutzbedeckten Rockes geküßt. Durch die Mauern des erzbischöflichen Palastes hindurch hatten wir den ganzen Tag ihr Singen und ihr Schreien gehört. Und diese Nacht ging der Hexensabbat wieder von neuem los. Von Brunneneinfassungen, von

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