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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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her verharrten starr wie Statuen die Würdenträger des Reiches in Hermelin und Cappa, und die Fürsten in ihren Kleidern, die steif an ihnen standen vor lauter goldener Stickerei. Auf den Gängen erschollen Rufe: «Mut! Mut!» Es waren Freunde Luthers. Er trat ein, streifte die schwarze Kapuze von den schlecht geschnittenen Haaren zurück, trat auf den Kaiser zu und grüßte ihn auf eine selbstgewisse Art. Er wirkte nicht mehr schüchtern. Er stellte sich an den Tisch, auf dem seine Bücher und Schriften aufgehäuft lagen, und fing zu sprechen an. Ich betrachtete prüfend sein mageres Gesicht mit dem erdigen Teint, den hervorspringenden Backenknochen, den düster glimmenden Augen. Woher kam es, daß er soviel Einfluß hatte? Eine Kraft schien von ihm auszugehen; aber er sprach wieder von Sakramenten und von Ablaßbriefen; das Thema langweilte mich. Ich hatte das Gefühl, daß wir unsere Zeit verlören. Man sollte all diese Mönche ausrotten, die Dominikaner so gut wie die Augustiner, ihre Kirchen durch Schulen ersetzen, die Predigten durch Lehrstunden in Mathematik, Astronomie und Physik. In diesem Augenblick hätten wirvon der Reichsverfassung sprechen sollen, statt diesen müßigen Reden zu lauschen. Karl hingegen folgte den Ausführungen Luthers mit großer Aufmerksamkeit, während seine Hände mit dem Kleinod des Goldenen Vlieses spielten, das auf seinem gefältelten Hemd lag. Der Mönch erhob seine Stimme; er sprach jetzt wie im Fieber, und in dem überfüllten Saal, in dem die Sommerhitze lastete, war alles in Schweigen versunken. Leidenschaftlich rief er aus:
    «Widerrufen kann und will ich nicht, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun.»
    Ich erbebte innerlich; die Worte trafen mich wie eine Herausforderung; und es waren die Worte nicht nur, es war vor allem der Ton, mit dem der Mönch sie vorgebracht hatte. Dieser Mann wagte zu behaupten, daß sein Gewissen schwerer wiege als das Interesse des Reiches und der ganzen Welt. Ich wollte die ganze Welt in meiner Hand vereinigen: er erklärte, daß er in sich selbst ein Universum sei. Seine Anmaßung durchsetzte die Welt mit tausend eigensinnigen Einzelwillen. Und deshalb wahrscheinlich hörten das Volk und die Gelehrten ihm so willig zu. Er schürte in den Herzen den leidenschaftlichen Hochmut, der Antonio verzehrt hatte und Beatrice ebenfalls. Wenn man ihm weiterhin zu predigen gestattete, so würde er die Menschen lehren, jeder sei selber Richter über sein Verhältnis zu Gott, Richter auch seiner Taten: wie sollte mir dann gelingen, sie mir gefügig zu machen?
    Er sprach noch immer weiter; jetzt griff er die Konzilien an. Aber allmählich ging mir auf, daß nicht nur von Konzilien, von der Gnade, dem Glauben die Rede sei. Etwas anderes vielmehr stand auf dem Spiel: das Werk, von dem ich träumte. Es konnte nur gelingen, wenn die Menschen auf ihre Launen, auf ihre Eigenliebe, ihre Narreteien verzichteten; das lehrte sie die Kirche, sie verlangte von ihnen, sich einem Gesetz zu fügen, sich einem Glauben zu beugen; warich mächtig genug, so würde dies Gesetz eben das meine sein: ich konnte nach meinem Sinn durch den Mund der Priester zu ihnen reden lassen. Wenn hingegen jeder seinen Gott in seinem eigenen Gewissen suchte, so wußte ich genau, daß er dort sicherlich nicht auf mich stoßen würde. «Wer hat ein Recht, darüber zu befinden?» hatte Balthus gesagt. Darum nahmen sie Luther in Schutz: sie wollten selbst entscheiden, jeder für sich allein. Aber dann würde die Welt noch tiefer gespalten sein, als sie es je gewesen. Nur ein Wille allein durfte sie beherrschen: es mußte mein Wille sein.
    Plötzlich ging eine Bewegung durch die Zuhörerschaft. Luther hatte erklärt, daß das Konzil von Konstanz seine Entscheidungen gegen den ausdrücklichen Text der Heiligen Schrift getroffen habe. Bei diesen Worten machte der Kaiser mit dem Handschuh eine Bewegung und erhob sich jäh. Tiefes Schweigen trat ein. Der Kaiser ging an das Fenster, sah einen Augenblick zum Himmel auf, wendete sich um und gab Befehl, den Saal von Menschen zu räumen.
    «Sie haben recht, Majestät», sagte ich. «Luther ist gefährlicher als der König von Frankreich. Wenn Sie ihn weitermachen lassen, so wird dieser kleine Mönch Ihr Reich zugrunde richten.»
    Sein Blick ruhte fragend in meinem. Trotz seiner Abneigung gegen Ketzerei hätte er geglaubt, Gott selber ungehorsam zu sein, wenn er Luther gegen meinen Rat verurteilt hätte.
    «Ah! Ist das Ihre

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