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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Meinung?» sagte er.
    «Ja», antwortete ich. «Die Augen sind mir geöffnet.»
    Hundert Arme hatten sich erhoben, um Luther im Triumph hinauszutragen; draußen jubelten sie ihm zu: sie jubelten dem Stolz und dem Aberwitz zu; ihre sinnlosen Schreie zerrissen meine Ohren, und noch immer fühlte ich den fiebrigen Blick des Mönchs auf mir ruhen, mit dem er mir Trotz geboten hatte. Er wollte die Menschen abwendenvon ihrem wahren Heil, ihrem Glück; und die Menschen waren so völlig von Sinnen, daß sie ihm bereitwillig folgten. Wenn man sie sich selbst überließe, würden sie niemals den Weg zum Paradies finden. Aber ich war da; ich wußte, wohin man sie führen mußte und auf welchem Wege. Für sie hatte ich gegen den Hunger, gegen die Pest gekämpft; zu ihrem Besten war ich gewillt, wenn es nötig wäre, gegen sie selbst zu kämpfen.
    Am folgenden Morgen gab der Kaiser vor dem Reichstag die folgende Erklärung ab: «Ein einzelner Mönch, der sich auf sein eigenes Urteil stützt, hat sich jenem Glauben widersetzt, dem die Christenheit anhängt seit mehr als tausend Jahren. Ich bin entschlossen, diese geheiligte Sache zu verteidigen mit meinem Besitz, meinem Leibe, meinem Blut, meinem Leben und meiner unsterblichen Seele.»
    Einige Tage später wurde Luther in die Reichsacht erklärt. In den Niederlanden wurde ein Edikt bekanntgegeben, das unter Androhung schwerer Strafen untersagte, irgendeine Schrift über Glaubensfragen ohne Genehmigung des Ordinariats zu drucken. Man befahl den Ratsherren der Städte, Luthers Parteigänger zu verfolgen.
     
    In dem Augenblick, als die Frage nach der Reichsverfassung gestellt werden sollte, waren wir zu unserer Enttäuschung in die Lage versetzt, den Reichstag aufzulösen; empört über seine Niederlage, was die Kaiserwürde anbetraf, rüstete sich Franz   I., uns den Krieg zu erklären; in Spanien waren Unruhen ausgebrochen, und Karl mußte nach Madrid; er bat mich, seinem Bruder Ferdinand zur Seite zu stehen, dem er die Herrschaft über das Reich anvertraut hatte. Die Verurteilung Luthers hatte der Unruhe, die das ganze Reichsgebiet überzog, bei weitem kein Ende gemacht. Die Mönche verließen ihre Klöster, eilten durch die Lande und verbreiteten predigend die ketzerischen Lehren. Aus Studenten, Arbeitern,Abenteurern bestehende bewaffnete Banden zündeten die Häuser der Priester, Bibliotheken und Kirchen an. In den Städten entstanden neue Sekten, die noch fanatischer waren als die Lutherischen, ja, es brachen offene Aufstände aus. In jedem Dorf standen Propheten auf, die die Bauern aufforderten, das Joch ihrer Fürsten zu brechen, und man sah auf dem Land die Standarte älterer Kämpfe wieder erscheinen: ein weißes Banner mit einem goldenen Schuh in einem Strahlenkranz und mit der Devise: «Wer frei sein will, gehe der Sonne zu.»
    «Es ist kein Grund zur Beunruhigung», sagte Ferdinand. «Eine Handvoll Bewaffneter genügt, um alles wieder in Ordnung zu bringen.»
    «Oder in Unordnung», sagte ich. «Die armen Leute haben recht: es sind Reformen nötig.»
    «Was für Reformen meinen Sie?»
    «Das müßte man erforschen.»
    Ich hatte das Gemetzel unter den Webern von Carmona nicht vergessen. Bei meinem Wunsch, die Macht der Welt in den Händen zu haben, spielte die Idee, das Wirtschaftswesen von Grund auf neu zu ordnen, eine sehr große Rolle. Niemals aber war die Besitzverteilung widersinniger gewesen als jetzt. Die Waren strömten in unsere Häfen, die ganze Welt stand dem Handel offen, und unsere Schiffe führten von allen Küsten der Erde kostbare Ladungen heran; doch die große Menge der Bauern auf dem Lande und der kleinen Kaufleute war ärmer als je zuvor. Das Pfund Safran, das im Jahre 1515 zweieinhalb Gulden und sechs Kreuzer gekostet hatte, wurde jetzt mit viereinhalb Gulden und fünfzehn Kreuzern bezahlt; das Pfund Brot hatte um fünfzehn Kreuzer aufgeschlagen; ein Zentner Zucker wurde mit zwanzig Gulden anstatt mit zehn verkauft; Korinthen kosteten neun Gulden anstatt wie früher fünf; alle Waren kosteten mehr, doch die Arbeitslöhne waren niedriger als zuvor.
    «Das ist eine unhaltbare Situation», sagte ich voller Zorn zu den Finanzleuten, die ich zusammengerufen hatte.
    Sie sahen mich nachsichtig lächelnd an; meine Naivität rief dies Lächeln auf ihren Gesichtern hervor.
    «Reden Sie», sagte ich zu dem Bankier Müller. «Wie erklären Sie diese erhöhten Preise?»
    Sie äußerten sich, und ich erfuhr, daß das Elend der Zeiten eine Folge des

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