Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
Tischen und Tonnen aus priesen die Redner die von Luther vollbrachten Wunder, Fanfarenbläser zogen durch die Stadt. Aus den Tiefen der Schenken stieg exaltiertes Singen auf und der Lärm von Meinungskämpfen. Ich hatte schon viele Städte im Festestaumelerlebt; die Leute von Carmona sangen an Siegestagen: aber dann wußte man, weshalb sie sangen. Doch was bedeutete dies sinnlose Lärmen hier?
    Ich schlug das Fenster zu: «Welch ein Karneval!»
    Ich drehte mich um und sah zwei Männer, die ihre Blicke schweigend auf mir ruhen ließen; sie beobachteten mich, und bei aller Freundschaft, die ich für sie empfand, fühlte ich mich dadurch gereizt.
    «Dieser Mensch», sagte Balthus, «ist im Begriff, ein Märtyrer und ein Heiliger zu werden.»
    «Das ist die weitaus häufigste Wirkung aller Verfolgungen», entgegnete Petrus Morel.
    «Sie wissen wohl, daß ich zu dieser Sache nichts tun kann», sagte ich.
    Als Karl diesen Reichstag zu Worms einberufen hatte, glaubte ich, wir wollten die Frage der Reichsverfassung regeln und den Grundstein legen für eine Konföderation unter dem Vorsitz des Kaisers. Es war für mich eine Enttäuschung gewesen, daß er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Verdammung Luthers zu erwirken, und erst recht, daß sich der Reichstag geweigert hatte, seinen Spruch in Abwesenheit des Angeklagten zu fällen, so daß wir ihn nun hatten herbeizitieren müssen. Wir verloren dadurch kostbare Zeit.
    «Welchen Eindruck hat Luther auf den Kaiser gemacht?» fragte Balthus.
    «Er hält ihn für ungefährlich.»
    «Wenn man ihn nicht verurteilt, wird er es auch bleiben.»
    «Ich weiß», sagte ich.
    In diesem Augenblick wurde im ganzen Palast und überall in der Stadt fieberhaft diskutiert. Die Räte des Kaisers waren in zwei Heerlager geschieden; die einen wollten, daß man den Ketzer in die Reichsacht erklärte und schonungslos gegen seine Anhänger vorging. Die anderen waren für Duldsamkeit; sie waren wie ich der Meinung, daß diese Mönchsstreitigkeitenkeine Bedeutung hätten und daß die weltliche Macht nicht Stellung nehmen sollte in Fragen des Glaubens, der guten Werke und der Sakramente; sie führten dabei auch an, daß Luther dem Heiligen Römischen Reich weniger gefährlich sei als ein Papst, der damit beschäftigt war, mit Frankreich ein Bündnis zu schließen. Ich stimmte ihnen zu. Aber an diesem Abend schien mir mit einemmal ihr Eifer nicht unbedenklich. War es wirklich aus der vernunftbedingten Überlegenheit über jeglichen Aberglauben, daß sie mit solcher Ungeduld die Entscheidung des Kaisers erwarteten?
    Ich fragte sie ins Gesicht: «Warum verteidigt ihr ihn so eifrig? Hat er euch etwa auch mit seinen Ideen angesteckt?»
    Einen Augenblick lang schienen sie verlegen.
    «Wenn Luther verurteilt wird», sprach Petrus Morel, «so werden von neuem Scheiterhaufen in den Niederlanden, in Österreich und Spanien flammen.»
    «Man kann einen Menschen nicht zwingen, öffentlich abzuschwören, was er für die Wahrheit hält», fügte Balthus hinzu.
    «Doch wenn es Irrtum ist?» fragte ich.
    «Wer hat das Recht, zu entscheiden?»
    Betroffen blickte ich sie an. Sie sagten offenbar nicht alles, was sie im Sinne hatten. Ich war nunmehr sicher, daß Luther etwas an sich hatte, was sie selber anzog; aber was? Sie waren zu vorsichtig mir gegenüber, um es mir zu sagen. Ich aber wollte wissen. Die ganze Nacht hindurch, mit dem tobenden Festeslärm unter meinem Fenster, las ich noch einmal genau die Berichte des Doktor Eck und Luthers Schriften durch. Ich hatte schon vorher aus Neugier diese Pamphlete gelesen, doch nichts Vernünftiges darin finden können; den Kampfeseifer dieses Mönches fand ich genauso beschränkt wie den römischen Aberglauben. Ihn selber hatte ich an diesem Nachmittag zum erstenmal gesehen;Johannes Eck hatte ihn vor dem Reichstag befragt; er hatte gestammelt und erklärt, er brauche etwas Zeit, um sich vorzubereiten; lächelnd hatte der Kaiser erklärt:
    «Dies Mönchlein wird mich jedenfalls noch nicht zum Ketzer machen.»
    Warum nur erhoben sich die weinbeschwingten Stimmen so leidenschaftlich in der Nacht? Warum warteten weise und verständige Männer in solcher Spannung auf den morgigen Tag?
    Als am anderen Tag die Sitzung eröffnet wurde, spähte ich ungeduldig nach der Tür, durch die der Mönch hereinkommen sollte. Karl saß auf seinem Thron, unberührt von allem, in seinen schwarzen und goldenen Kleidern nach spanischer Art, ein kleines Samtbarett auf seinen kurzen Haaren. Um ihn

Weitere Kostenlose Bücher