Alle Menschen sind sterblich
Vera Cruz!
Zum erstenmal hatten die Geographen die äußeren Umrisse der Neuen Welt aufgezeichnet: Feuerland, wo die Indianer mit den großen Füßen wohnten und dessen Kap Magalhães umschifft hatte. Auf die gelben und die grünen Landmassen, die aus dem Meere ragten, hatten sie magische Namen geschrieben: America, Terra Florida, Terra de Brazil. Ich meinerseits legte den Finger auf eine ganz neue Karte von beträchtlichen Maßen: «México» stand darauf.
Es war nur ein schwarzer Punkt auf einem Stück Papier; aber es war auch zwischen Seen, die seinen Glanz widerspiegelten, in der Region mit der klarsten Luft, die Hauptstadt, die Cortés sich baute. Auf der Asche der alten Viertel: Mazeltan, Tepocan, Artacalco und Culpupan ragten heute die vier Distrikte San Juan, San Paolo, San Sebastián und Santa María auf. Kirchen, Spitäler, Klöster, Schulen waren entstanden in der neuen Stadt mit den großen Durchgangsstraßen. Und in den öden Räumen rings um die Hauptstadt herum wurden schon neue Städte gebaut. Ich folgte mit dem Finger der schwarzen Linie, die die Schneegipfel der Kordilleren bezeichnete: ich wies auf eine noch unerforschte Region im Westen dieser Kette; «Terra incognita» stand darauf.
«Eldorado», sagte ich. «Pizarro ist im Begriff, diese Berge zu überschreiten.»
Ich berührte die Linie, die den Meridian bezeichnete, der 370 Meilen vom Kap Verde entfernt lag und der seit dem Vertrag von Tordesillas die portugiesischen Besitzungen von den spanischen trennte.
«Eines Tages», murmelte ich, «werden wir diese Grenze auslöschen.»
Karl hob seine Augen zu dem Bild Isabellas auf; sie lächelte aus ihrem Rahmen heraus, schön und ernst unter lichtbraunem Haar.
«Isabella wird niemals Rechte auf die portugiesische Krone haben.»
«Wer weiß das?» sagte ich.
Mein Blick irrte über den Indischen Ozean, die großen Gewürzgegenden von den Molukken bis Malakka und Ceylon. Isabellas Neffen konnten sterben; vielleicht aber würden wir auch bald stark genug sein, einen Krieg zu entfesseln, durch den Karl der Herr der ganzen Halbinsel und der überseeischen Besitzungen werden könnte: der Sieg über den französischen König hatte unsere Hände frei gemacht.
«Sie sind unersättlich», meinte Karl gut gelaunt.
Er strich über seinen seidigen Bart, und seine blauen Augen lachten in seinem blühenden Gesicht; er war jetzt ein Mann von kräftiger Körperkonstitution geworden und schien fast ebenso alt wie ich.
«Warum nicht?» sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. «Man muß maßhalten.»
Meine Blicke lösten sich von der gelben und blauen Karte. Ich schaute zu der getäfelten Decke auf, zu den Wandbehängen und Bildern; für den Empfang von Isabella war der Palast in Granada mit kostbarer Seide bespannt worden; im Garten rauschten Springbrunnen; das Wasser rieselte zwischen Kirschlorbeerbüschen und Orangenhainen hindurch. Ich trat an das Fenster. Langsamen Schrittes wandelte, umgeben von ihren Damen, die Königin durch die Alleen. Sie trug ein langes Kleid aus goldkäferfarbener Seide. Karl liebte sie. Er liebte diesen Palast, die Wasserbecken, die Blumen, die schönen Kleider, diese Stickereien, kräftige Fleischspeisen, stark gewürzte Soßen, und er lachte gern. Seit einem Jahr war er glücklich.
«Wünschen Sie denn nicht», fragte ich, «die Herrschaft über die Welt?»
«Nein. Ich will vollenden, was ich angefangen habe. Das ist mir genug.»
«Wir werden es vollenden», sagte ich.
Ich lächelte. Ich konnte nicht maßhalten mit meinen Wünschen. Ich konnte nicht damit haltmachen, eine Wohnung auszustatten, eine Frau zu lieben, ein Konzert anzuhören und dabei glücklich zu sein. Aber es gefiel mir, daß Karl von solcher Ruhe wußte. Ich dachte an den schwächlichen Neugeborenen zurück, an den schläfrigen Jüngling, den zaudernden jungen Mann, aus dem ich mir vorgenommen hatte, einen Kaiser zu machen, und ich bewunderte jetzt diesen schönen Mann, der so ruhig und überlegt war. Ich durfte dabei denken: seine Macht ist mein Werk, und sein Glück ist mein Werk. Ich baue eine Welt auf und habe diesem Menschen sein Leben zum Geschenk gemacht.
«Erinnern Sie sich noch?» fragte ich ihn. «Sie haben mir gesagt: ‹Ich habe große Dinge vor …›»
«Ich erinnere mich.»
«Und nun haben Sie eine Welt geschaffen», sagte ich und legte die Hand auf die Karte mit den phantastischen fremden Namen.
«Das danke ich Ihnen», sagte er. «Sie haben mir gezeigt, wo meine Aufgabe
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