Alle Menschen sind sterblich
drüben liegt eine ganz neue Welt, die Sie erobert haben, Sie haben dort Kirchen und Städte erbaut, Sie haben gesät und geerntet …»
Er schüttelte den Kopf: «Wer weiß, wie da drüben alles steht!»
Tatsächlich war die Lage einigermaßen verworren. Ein Krieg war ausgebrochen zwischen Pizarro und einem seiner Gefährten, der besiegt und zum Tode verurteilt worden war, doch dessen Parteigänger hatten Pizarro umgebracht. Der Vizekönig, den der Kaiser hingeschickt hatte, um die Streitigkeiten zu schlichten, war von den Soldaten des Gonzalo Pizarro ermordet worden, den wiederum die königlichen Offiziere überwältigt und enthauptet hatten. Fest stand nur, daß die neuen Gesetze nicht eingehalten und die Indianer nach wie vor mißhandelt wurden.
«Früher wollten Sie Amerika mit eigenen Augen sehen», sagte Karl.
«Ja.»
«Wünschen Sie es noch?»
Ich zögerte. Mit nur schwachen Schlägen pochte etwas in meinem Herzen, was vielleicht einem Wunsch glich.
«Ich wünsche immer, Ihnen zu Diensten zu sein.»
«Dann», sagte er, «gehen Sie hin und sehen Sie, was wir da drüben zuwege gebracht haben. Ich möchte es gerne wissen.» Er strich sich langsam über das gichtige Bein. «Ich muß doch wissen, was ich Philipp hinterlasse.» Er senkte den Ton seiner Stimme. «Ich muß wissen, was ich in 30 Regierungsjahren vollbracht habe.»
Sechs Monate später, im Frühling 1550, stach ich in See mit Kurs auf Sanlúcar de Barrameda auf einer Karavelle, dievon drei Kauffahrteischiffen und zwei Kriegsschiffen begleitet war. Viele Tage lang betrachtete ich, an die Reling gelehnt, die Schaumspur, die das Schiff auf dem Wasser zog: diesen selben Weg hatten die Karavellen des Kolumbus zurückgelegt, die des Cortés und Pizarro nach ihm; oft hatte ich ihn auf dem Pergament der Karten mit dem Finger nachgezogen; aber heute war das Meer nicht mehr ein einförmiger Raum, den ich mit der Hand bedecken konnte; es wogte und schillerte und erstreckte sich weiter als mein Blick; ich fragte mich: Wie kann man sich das Meer unterwerfen? In meinem Arbeitszimmer zu Brüssel, zu Augsburg oder Madrid hatte ich davon geträumt, die Welt in den Händen zu halten: die Welt, eine glatte, runde Kugel. Jetzt, während ich Tag für Tag über das blaue Wasser glitt, fragte ich mich: Was ist die Welt? Und wo ist sie denn?
Eines Morgens lag ich mit geschlossenen Augen auf Deck, als plötzlich mir der Wind einen Duft entgegentrug, den ich seit fünf Monaten nicht mehr eingeatmet hatte, einen heißen, würzigen Duft, den Geruch von Erde. Ich schlug die Augen auf. Vor mir, endlos ausgedehnt, lag eine flache Ebene, die beschattet war von einem Wald aus riesenblättrigen Bäumen. Wir fuhren in die Gruppe der Bahama-Inseln ein. Mit tiefer Bewegung betrachtete ich die weite grüne Fläche, die auf dem Wasser zu schwimmen schien. Die Schiffswache hatte gerufen: «Land!», und die Gefährten des Kolumbus waren auf die Knie gesunken. Man hörte damals wie heute die schwatzenden Stimmen der Vögel.
«Legen wir auf diesen Inseln an?» fragte ich den Kapitän.
«Nein», sagte er. «Sie sind völlig verlassen.»
«Verlassen», sagte ich. «Es ist also wahr?»
«Wußten Sie das nicht?»
«Ich wollte es nicht glauben.»
Im Jahre 1550 hatte Ferdinand den Sklavenhandel auf den Bahama-Inseln genehmigt. Pater Las Casas behauptete, manhabe die Einwohner mit Hilfe von Spürhunden wie Tiere des Waldes gejagt und 50 000 Indianer vernichtet oder in alle Winde versprengt.
«Vor fünfzehn Jahren gab es noch an der Küste ein paar Siedler, die vom Perlenhandel lebten», berichtete der Kapitän. «Aber ein Taucher wurde schon mit 150 Dukaten bezahlt; die Rasse ist schnell ausgestorben, und die letzten Spanier haben die Inseln verlassen müssen.»
«Wie viele Inseln gehören zu dem Archipel?» fragte ich.
«Etwa dreißig.»
«Und alle sind verlassen?»
«Alle.»
Auf der Karte, die die Geographen hergestellt hatten, war die Inselgruppe nur ein Haufen unbedeutender Flecke. In der Tat aber existierte jedes dieser Inselchen mit ebenso großem Glanz wie die Gärten der Alhambra; sie waren voll von Blumen in berauschenden Farben, von Vögeln und von Düften: zwischen den Riffen bildete das eingefangene Meer unbewegte Lagunen, die bei den Seeleuten «Wassergärten» hießen; Polypen, Quallen, Algen, Korallen entfalteten sich in der klaren Flut, in der rote und blaue Fische ihre Flossen regten. In großen Abständen sah man einsame Dünen auftauchen, die
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