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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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blickte in das trübe Wasser des Kanals, der zwischen den steinernen Quais eingezwängt dahinfloß; in der Ferne sah man die düstere Masse des Belfrieds, dessen stolze Glocken fortgeschafft worden waren.
    «Ich werde niemals Amerika sehen!»
    «Sie werden es durch meine Augen sehen. Sie wissen, daß Sie sich auf mich verlassen können.»
    «Aber erst später», sagte er.
    Das war kein Befehl, sondern eine Bitte; er mußte schon sehr leiden, daß ein so flehentlicher Ton ihm auf die Lippen kam. Entschiedener fuhr er fort: «Ich brauche Sie hier.»
    Ich neigte den Kopf. Jetzt im Augenblick wünschte ich mir, Amerika zu sehen, würde ich es später noch wollen? Jetzt hätte ich reisen müssen.
    «Ich werde warten», sagte ich.
     
    Ich wartete zehn Jahre lang. Alle Dinge waren in einer unaufhörlichen Wandlung begriffen, und dennoch blieb alles beim alten. In Deutschland triumphierte das Luthertum, die Türken bedrohten wieder die Christenheit, von neuem suchten Piraten das Mittelmeer heim: wir wollten ihnen Algier nehmen, doch es gelang uns nicht. Ein neuer Krieg mit Frankreich brach aus; durch den Vertrag von Crépy-en-Valois verzichtete der Kaiser auf Burgund und Franz   I. auf Neapel, auf Artois und Flandern: nach einem Kampf von 27   Jahren, der die Kräfte des Reiches und ebenso Frankreichs erschöpft hatte, standen die beiden Kombattanten einander gegenüber, ohne daß einer von ihnen einen Schrittbreit vorangekommen wäre. Karl hatte die Freude, zu sehen, daß Papst Paul   II. nach Trient ein großes Konzil berief; die protestantischen Fürsten entfesselten darauf einen Bürgerkrieg; trotz der Gicht, die ihn plagte, setzte Karl sich heroisch ein, und es gelang ihm auch, die Feinde zurückzuschlagen; aber da der Statthalter des Kaisers ungeschickterweise Piacenza besetzt hatte, begann der darob erzürnte Papst mit Heinrich   II. zu verhandeln, der neuerdings König von Frankreich war, und verlegte das Konzil von Trient nach Bologna. Karl mußte in Augsburg einen Kompromiß schließen, der weder Katholiken noch Protestanten befriedigte. Die einen wie die anderen lehnten eigensinnig das Projekt einer Reichsverfassung ab, für das wir ohne Unterlaß gekämpft hatten, seitdem Karl zum Kaiser gewählt worden war.
    «Niemals hätte ich diesen Kompromiß unterzeichnen sollen», sagte Karl.
    Er saß in einem tiefen Liegesessel, das gichtige Bein gerade vor sich auf einem Schemel ausgestreckt; so verbrachte er seine Tage, wenn ihn die Ereignisse nicht zwangen, sich aufs Pferd zu schwingen.
    «Sie konnten nichts anderes tun», sagte ich.
    Er zuckte die Achseln: «Das sagt man immer in solchem Fall.»
    «Man sagt es, weil es wahr ist», bemerkte ich.
    Das einzige Mittel   … wir haben keine Wahl   … man konnte nichts anderes tun   … Durch die Jahre, die Jahrhunderte hindurch rollte der Automatismus ab; man mußte sehr beschränkt sein, um sich einzubilden, daß ein menschlicher Wille an diesem Ablauf etwas ändern könnte. Was hatten wir erreicht mit unseren großen Plänen?
    Er sagte: «Ich hätte mich weigern sollen. Und zwar um jeden Preis.»
    «Das hätte Krieg bedeutet und eine Niederlage für Sie.»
    «Ich weiß.»
    Er strich sich mit der Hand über die Stirn – eine Bewegung, die er sich angewöhnt hatte. Er schien sich zu fragen: Warum nicht eine Niederlage? Und vielleicht hatte er recht. Es gab trotz allem Menschen, deren Wünsche der Erde ihren Stempel aufgedrückt hatten: Luther, Cortés zum Beispiel   … Vielleicht gerade, weil sie sich mit dem Gedanken der Niederlage abgefunden hatten? Wir hatten den Sieg gewählt. Und nun fragten wir uns: Welchen Sieg?
    Dann sagte Karl: «Philipp wird nicht Kaiser werden.»
    Er wußte es seit langem; Ferdinand nahm mit allzu naiver Habsucht das Reich für sich in Anspruch, das er seinem Sohn vermachen wollte; aber noch niemals hatte Karl sich diese Niederlage offen eingestanden.
    «Was macht das?» sagte ich.
    Ich blickte auf die verblaßten Stickereien, die Möbel aus Eichenholz und sah durch die Fenster das herbstliche Laub, das sich im Winde bewegte. Hier war alles verstaubt und erstarrt; die Dynastien, die Grenzen, der Beamtenapparat, die Ungerechtigkeiten; warum sollten wir so erpicht darauf sein, die Trümmer dieser wurmstichigen alten Welt noch zusammenzuhalten?
    «Machen Sie Philipp zum spanischen Infanten und zum Kaiser Westindiens; nur da drüben noch kann man etwas erbauen, erschaffen   …»
    «Kann man das?» fragte Karl.
    «Zweifeln Sie daran? Da

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