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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gescheiterten Schiffen glichen; manchmal war ein Sandhügel von einem Netz langfaseriger Gräser und Lianen überzogen, und Fächerpalmen wuchsen an seinem Hang. Nie mehr glitt ein Boot über die lauwarmen Seen, in denen dann und wann Süßwasserquellen brodelten; niemals schob eine Hand den Vorhang aus Lianen zurück; dieses Land der Wonne, in dem früher ein träges, nacktes Volk lässig dahingelebt hatte, war für die Menschheit verloren.
    «Gibt es in Cuba noch Indianer?» fragte ich, als wir in die schmale Meerenge einfuhren, die zur Bai von Santiago führt.
    «In Guandora, nahe bei Havanna, hat man in einem Dorfetwa 60   Familien angesiedelt, die auf den Bergen lebten», berichtete der Kapitän. «In dieser Gegend hier müssen auch noch ein paar Stämme hausen, aber sie verbergen sich.»
    «Das sehe ich», sagte ich.
    Die Bai von Santiago de Cuba war so groß, daß die gesamte Flotte des spanischen Königreiches darin hätte Platz finden können; ich blickte auf die rosa, grünen, gelben Häuserwürfel, die auf vorspringenden Terrassen über den Hügel hin verstreut lagen, und ich lächelte: ich hatte Städte so gern. Sobald ich den Fuß an Land gesetzt hatte, sog ich mit Entzücken den Geruch von Teer und Öl ein, der genauso Antwerpen wie Sanlúcar beherrscht. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge auf dem Landungsplatz; Kinder in Lumpen hängten sich an meine Kleider an und riefen: «Santa Lucia!» Ich warf eine Handvoll Münzen unter sie und sagte zu dem unter ihnen, der mir am aufgewecktesten schien: «Führe mich.»
    Eine breite, ockerfarbene Straße, die von Palmen beschattet war, stieg zu einer Kirche von blendender Weiße empor.
    «Santa Lucia», sagte das Kind.
    Seine Füße waren nackt, der Kopf eine schwarze Kugel, vollkommen abrasiert.
    «Ich mache mir nichts aus Kirchen», sagte ich. «Führe mich zu den Läden und zum Marktplatz.»
    Wir bogen um die Ecke; alle Straßen waren schnurgerade und kreuzten sich wie ein Damebrett; die mit glänzendem Stuck bedeckten Häuser waren nach dem Vorbild der Häuser von Cádiz erbaut; aber Santiago glich nicht einer spanischen Stadt, kaum überhaupt einer Stadt; meine Schuhe waren von gelbem Staub bedeckt wie nach dem Beschreiten einer Dorfstraße; große, viereckige Plätze lagen roh aufgespart und von Kakteen und Agaven überwuchert da.
    «Sie kommen aus Spanien?» fragte der Junge.
    Er sah mich mit leuchtenden Augen an.
    «Ja», sagte ich.
    «Wenn ich groß bin, werde ich in den Bergwerken arbeiten», sagte er, «dann werde ich reich, und dann gehe ich nach Spanien.»
    «Gefällt es dir hier nicht?»
    Er spuckte verächtlich auf den Boden.
    «Hier sind die Leute alle arm», sagte er.
    Wir kamen auf dem Marktplatz an; Frauen saßen am Boden und verkauften aufgebrochene Berberfeigen, die auf Palmblättern lagen; andere standen hinter offenen Buden, in denen runde Laibe Brot, Korn, Bohnen und Kichererbsen in den Körben feilgeboten wurden; es gab auch Händler mit Eisenwaren und Stoffen. Die Männer trugen verblichene Baumwollgewebe, alle gingen barfuß einher; auch die Frauen hatten nackte Füße und waren armselig gekleidet.
    «Was kostet die Fanega Weizen?»
    Ich war wie ein Edelmann gekleidet, und ein wenig verwundert gab der Händler mir Auskunft:
    «24   Dukaten.»
    «24   Dukaten! Aber das ist ja zweimal soviel, wie sie in Sevilla kostet.»
    «Das ist hier der Preis», gab der Mann verdrossen zurück.
    Langsam ging ich rund um den Platz. Ein kleines Mädchen in Lumpen trottete vor mir her; vor jedem der Stände, wo man Brot verkaufte, blieb sie stehen und hob prüfend und nachdenklich einen der runden Laibe empor, ohne sich zu entscheiden; die Händler sahen ihr lächelnd zu. In diesem Land, wo das Eisen teurer als Silber war, war das Brot noch mehr wert als Gold. Die Fanega Bohnen, die man in Spanien mit 272   Maravedi bezahlte, kostete hier 518, ein Hufeisen war 6   Dukaten wert, zwei Hufnägel 46   Maravedi, ein Bogen Papier 4   Dukaten, ein Stück Valencia-Scharlach 40   Dukaten; Schnürstiefel wurden mit 36   Dukaten verkauft. Die Preissteigerung, die in Spanien schon seit der Entdeckung der Silberminenvon Potosi spürbar war, hatte hier das Volk ins Elend geführt. Ich sah die sonnverbrannten Gesichter an, die von Hunger ausgehöhlt waren, und dachte bei mir: In fünf Jahren, in zehn Jahren wird es überall im ganzen Königreich so sein.
    Nachdem ich den ganzen Tag in der Stadt umhergeirrt war mit den unaufhörlichen Klagen der Frauen

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