Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
und Greise im Ohr, die um Almosen bettelten, und der schreienden Zudringlichkeit der Kinder ausgesetzt, speiste ich abends beim Gouverneur. Er empfing mich in außerordentlich luxuriöser Weise; die Edelleute und ihre Damen waren von Kopf bis Fuß in lauter Seide gehüllt, die Wände des Palastes gleichfalls mit Seide bespannt. Die Tafel war üppiger bestellt als bei Karl   V.   Ich fragte meinen Wirt nach dem Schicksal der Eingeborenen, und er bestätigte mir, was mir der Schiffskapitän gesagt hatte: Hinter Santiago und bei Havanna breiteten sich von Schwarzen bestellte Pflanzungen aus; aber in ihrer Gesamtheit war die einst von 20   000   Indianern bevölkerte Insel Cuba, die eine Ausdehnung hatte wie die Strecke zwischen Rom und Valladolid, jetzt völlig menschenleer.
    «Konnte man diese Wilden denn nicht unterwerfen, ohne sie niederzumetzeln?» fragte ich gereizt.
    «Es hat nirgends ein Gemetzel gegeben», gab einer der Pflanzer zurück. «Sie kennen die Indianer nicht: diese Leute sind so faul, daß sie den Tod der geringsten Anstrengung vorziehen. Sie sind mit Absicht gestorben, nur um nicht arbeiten zu müssen; sie haben sich aufgehängt, oder sie aßen nicht mehr. Ganze Dörfer haben sich auf diese Weise selber ums Leben gebracht.»
    Ein paar Tage später stellte ich auf einem Boot, das mich nach Jamaika trug, die gleiche Frage einem der Mönche, die sich in Cuba eingeschifft hatten.
    «Stimmt es, daß sich die Indianer auf diesen Inseln aus Faulheit selbst getötet haben?» fragte ich sie.
    «Wahr ist, daß ihre Herren sie haben arbeiten lassen, bis sie den Mühen erlagen. Da zogen sie vor, auf der Stelle zu sterben; sie aßen Erde und Kieselsteine, ihr Ende zu beschleunigen. Sie lehnten ab, sich taufen zu lassen, um nicht die guten Spanier im Himmel wieder zu treffen.»
    Die Stimme des Paters Mendonez bebte vor Empörung und Mitleid. Lange sprach er von den Indianern. An Stelle der grausamen, stumpfen Wilden, als die sie mir die Leute des Cortés beschrieben hatten, schilderte er mir Menschen mit so sanften Sitten, daß sie, unkundig des Gebrauchs von Waffen, sich an der Schneide der spanischen Degen verletzt hatten. Sie bewohnten große, aus Zweigen und Schilf erbaute Hütten, in denen sie zu Hunderten sich zusammenfanden; in ihren Mußestunden verfertigten sie Geflechte aus schillernden Kolibrifedern; sie trachteten nicht nach den Gütern dieser Welt, sie wußten nichts von Haß, von Neid und Begehrlichkeit; sie lebten arm, sorglos, glücklich dahin. Meine Blicke ruhten auf der Herde von Auswanderern, die elend auf dem Deck des Schiffes lagen; ein Bündel in der Hand, verließen sie den unergiebigen Boden Cubas, um ihr Glück in den Minen zu machen. Und ich fragte mich: «Für wen denn arbeiten wir?»
    Bald zeigten sich zerrissene Berggipfel am Horizont; unterhalb der Firste, die in azurner Bläue strahlten, erkannte man das dunkle Grün der Schluchten und der Täler, deren Tönung sich bis zu einem fahlen Hellgrün abstufte. Das war Jamaika. Pater Mendonez hatte mir gesagt, daß von den 60   000   Indianern, die auf dieser Insel gelebt hatten, noch höchstens zweihundert übrig wären.
    «Der Import von Schwarzen hat also nicht das Leben eines einzigen Indianers gerettet?» fragte ich.
    «Wenn man die Lämmer dem Schutz der Wölfe anvertraut, sind sie verloren», antwortete mir der Mönch. «Und wie soll man ein Verbrechen durch das andere beheben?»
    «Pater Las Casas selbst war für diese Maßnahme», bemerkte ich.
    «Pater Las Casas wird in Qualen der Reue sterben», sagte mir der Mönch.
    «Verdammen Sie ihn nicht», fiel ich lebhaft ein. «Wo ist der Mensch, der die Folgen seiner Handlungen vorhersehen kann?»
    Der Mönch blickte mich an; ich wendete die Augen ab.
    «Mein Sohn, wir müssen alle viel beten», sagte er.
    Ich wußte, daß das Gesetz den Pflanzern das Recht gab, ihre Negersklaven langsam an kleinem Feuer zu rösten oder zu vierteilen bei der geringsten Verfehlung; aber in Madrid gab man sich leicht der Hoffnung hin, sie würden keinen Gebrauch von ihrer Erlaubnis machen. In Madrid hatte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, entsetzliche Berichte angehört: man sagte, gewisse Siedler fütterten ihre Hunde mit dem Fleisch eingeborener Kinder; man sagte, der Gouverneur Nogarez habe aus purer Laune mehr als 5000   Indianer hinmorden lassen; aber man erzählte auch, die Vulkane der Neuen Welt würden flüssiges Gold ausspeien und die Aztekenstädte seien aus purem Silber erbaut. Jetzt

Weitere Kostenlose Bücher