Alle Menschen werden Schwestern
das Wissen darüber entsteht und verbreitet sich langsam genug — wäre es da nicht besser, wenigstens die so unterschiedlich betroffenen Geschlechter präzise zu benennen, genau auseinanderzuhalten?!
1.2 Aids und Sprache
1.2.1 Neue Krankheit — neue Sprache
Aids ist nicht nur eine tückische und tödliche Krankheit, sondern auch eine höchst ungewöhnliche und komplizierte. Wegen ihrer extremen Gefährlichkeit ist es notwendig, die Bevölkerung gründlich über alle Aspekte dieser Krankheit zu informieren, aber wegen ihrer »Exotik« und Kompliziertheit ist diese lebenswichtige Aufgabe äußerst schwierig. Immerhin: Wir werden inzwischen mit Informationen über Aids geradezu bombardiert. Information geht nicht ohne Sprache, und so lernen wir denn täglich mühsam neue Wörter und neue Bedeutungen für alte. Aids ist zwar ansteckend — aber nicht so wie Grippe. Das haben die meisten aber noch immer nicht begriffen, weshalb sie mit Panik reagieren und Aidskranke am liebsten einsperren lassen würden. Bis vor kurzem wußte ich auch nicht, daß Aidskranke nicht dasselbe sind wie Aidsinfizierte , und verstand die Zahlenakrobatik kaum: Mal war die Rede von 800 Aidskranken, dann wieder von 100.000 Aidsinfizierten. Weil ich den neuen Sprachgebrauch noch nicht verstand und die öffentlichen Erklärungen nach meinem alten Schema interpretierte, in dem infiziert so ziemlich dasselbe bedeutet wie krank, fragte ich mich verwirrt: »Lügen die Statistiken wie gewöhnlich und widersprechen einander haarsträubend — oder was ist los? Wer soll denn da noch durchfinden?«
1.2.2 Neues Reden über Sexualität
Die Medien melden: Aids hat nicht nur unser Vokabular, sondern auch unsere Kommunikationsgewohnheiten verändert:
So offen und öffentlich haben Frauen, Männer und Medien in dieser Republik noch nie zuvor über Sexualität geredet. Seit den ersten Wochen des Jahres wird mit überrumpelnder Deutlichkeit Ungehörtes hörbar, wird Verschwiegenes ausgesprochen, sonst Verborgenes enthüllt. [...]
In einem Ausmaß, das noch vor wenigen Monaten unvorstellbar schien, sind die intimen Zonen und Säfte des menschlichen Körpers zum Gegenstand detailgetreuer Diskurse vor breitestem Publikum geworden. Die Varianten und Kaprizen der Geschlechtslust beanspruchen höchstes politisches Interesse. 80
Die heiklen Fragen richten sich nur an Homosexuelle: Ob sie »häufig«, »selten« oder nie anal, oral oder mit der Faust verkehren. Ob sie auf »Natursekt« (Urin) oder »Götz von Berlichingen« (Anilingus) stehen. Tabus gibt es nicht. (Über die geplante Süssmuth-Umfrage zum »Liebesleben der Deutschen«, m. H.) 81
Durch Aids wird endlich auch über andere Sexualpraktiken und über Zärtlichkeit gesprochen (in breiten Kreisen). Außerdem ist endlich der Zwang da, überhaupt über Sexualität zu sprechen und Aufklärung zu betreiben. In meiner eigenen Erziehung wurde nie über Sexualität gesprochen, und auch heute fällt es mir noch sehr schwer, über Sexualität zu sprechen. (Journalistin, 28, Großstadt) 82
[...] man wird den Leuten niemals genug Geschichten von dieser Epidemie erzählen können — das Thema ist unterschwellig pornographisch, zugleich entsetzlich und erotisch. Es liegt ein bestimmter Reiz darin, einen legitimen Grund und sogar die Verpflichtung zu haben, in aller Öffentlichkeit Dinge zu diskutieren, die brave Leute noch nie diskutiert haben. 83
Da anscheinend beide Geschlechter inzwischen häufiger und offener über Sexualität reden als je zuvor, kann ich es hier mit der Feststellung des Tatbestands bewenden lassen. Aber offenbar verstehen viele Frauen unter Sexualität etwas anderes als Männer (Stichwort Natursekt vs. Zärtlichkeit, s. o.) — und das gehört unbedingt zum Thema.
2 Was ist frauenspezifisch am Thema »Sprache und Aids«?
Über Aids haben sich öffentlich bis jetzt überwiegend Männer geäußert, zum einen, weil alle Medien und die gesamte Forschung sowieso fest in Männerhand sind, zum andern, weil Aids zunächst als Männerleiden galt, als eine Krankheit, die vor allem männliche Homosexuelle heimsucht. Erst in diesem Jahr (1987) melden sich auch Frauen vermehrt zu Wort.
Im folgenden werde ich untersuchen, welche Aspekte der Aids- diskussion für Frauen relevant sind. Am wichtigsten scheinen mir zwei Fragenkomplexe:
Erstens: Unterscheidet sich die Art und Weise, wie Frauen über Aids reden, von der Art, wie Männer darüber reden? Und wenn ja, wie und warum?
Zweitens: Wie
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