Alle Menschen werden Schwestern
produzieren kein Sperma; sie »empfangen« es höchstens und mit ihm möglicherweise die tödliche Krankheit.
Daß dies aber den meisten nicht klar ist, liegt an der Art des traditionellen Redens und Denkens über Sexualität. Der öffentliche Diskurs wurde und wird beherrscht von Männern. Ihre einseitige, voreingenommene und egoistische Auffassung von Sexualität gilt allgemein als die Sexualität schlechthin.
Damit bin ich bei meinem Hauptanliegen angekommen. Das in den vorigen Kapiteln Gesagte war sozusagen nur das »Vorspiel«, eine Art Aufräumen und Den-Weg-zum-Thema-Freimachen. Jetzt geht es zur Sache und bleibt dabei bis zum Schluß. Sache ist ungefähr folgendes:
Männer und Frauen sprechen verschiedene Sprachen, glauben aber dabei, daß es dieselbe sei, das heißt, sie benutzen ähnliche Worte zur Darstellung disparater Erfahrungen, des Selbst und der sozialen Beziehungen. Da diese Sprachen ein überlappendes moralisches Vokabular miteinander gemein haben, verführen sie zu systematischer Fehlübersetzung und schaffen Mißverständnisse, welche die Kommunikation behindern und das Potential für Kooperation und Zuwendungen in Beziehungen einschränken. 88
Diese Ausführungen der Psychologin Gilligan klingen versöhnlich und fair. Als Linguistin kann ich ihr nur teilweise zustimmen. Es stimmt, daß Frauen und Männer »ähnliche Worte zur Darstellung disparater Erfahrungen benutzen«, ich würde sogar sagen, sie benutzen überwiegend dieselben. Was Gilligan entgeht, ist, daß diese Wörter mit männlicher Erfahrung und männlichem Wunschdenken »gesättigt« und daher zum Ausdruck weiblicher Erfahrungen und Bedürfnisse ungeeignet sind. Das wissen aber die meisten Frauen nicht, denn diese bittere Erkenntnis setzt gründliche feministische Analyse und Mut zu bitteren Erkenntnissen und zum Widerstand voraus. Ganz allgemein gilt folgendes Gesetz:
Unterdrückung ist erst dann vollendet gelungen, wenn die Unterdrückten dasselbe glauben und wollen wie ihre Herren und die Interessen der Herren mit ihren eigenen verwechseln. Solange dies nicht erreicht ist, können die Herren ihre Herrschaft nicht richtig genießen, weil sie gegen den Widerstand der Unterdrückten kämpfen oder mindestens arbeiten müssen.
Bezogen auf Frauen, Männer, Sexualität und Sprache: Wer durchgesetzt hat, daß seine Version von Sexualität als die Sexualität gilt, hat gewonnen.
Klassische Beispiele sind die Ausdrücke Penetration , Vorspiel und Sexuelle Befreiung.
Mit Penetration wird »der Akt« als rein männliche Aktivität gekennzeichnet. Er könnte genausogut Umschließung 89 oder Einverleibung genannt werden — Betonung der weiblichen Aktivität zuungunsten der männlichen.
Das, was für viele, wenn nicht die meisten Frauen am sogenannten Geschlechtsakt das Wichtigste und Schönste ist, gilt im gängigen (von Männern geprägten) Sprachgebrauch als »Vorspiel« zum »Hauptakt«, eben dem Geschlechts-Akt: »Zu den Aktivitäten des Vorspiels gehört die Stimulation der Klitoris. Für Männer mag dies durchaus Vorspiel« sein, für Frauen hingegen könnte es mit Sicherheit eine Tätigkeit um ihrer selbst willen ( an end in itself) sein.« 90 Aids wäre tatsächlich für die Gesundheit von Frauen kaum ein Problem, wenn der sogenannte Geschlechtsakt allgemein als Nachspiel gälte, als derjenige Teil der heterosexuellen Aktivität, der ruhig auch weggelassen werden kann. Für eine derartige Umwertung aller Werte bräuchte es allerdings eine völlig andere Kultur. Oder anders ausgedrückt: Nicht nur die sexuellen Bräuche wären anders, wenn das »Vorspiel« zum Hauptakt avanciert und der »Hauptakt« zum Nachspiel herabgesunken wäre. Unsere Gesellschaftsordnung wäre eine völlig andere.
Und schließlich: die derzeit vielbeschworene und bereits nostalgisch verklärte »sexuelle Befreiung«. Befreiung — was für ein schönes Wort! Wer möchte nicht gern frei sein?! Und wie denken Frauen darüber? Die Schriftstellerin Caroline Muhr schreibt im Jahre 1974, lange vor Aids:
Und was da in der Mitte zwischen seinen Beinen baumelte, hatte beachtliche Ausmaße. Es sah aus wie eine etwa fünfzehn Zentimeter lange, kräftige Fleischwurst. [...] Ich sah mir noch an, wie der nackte Mann zur Lockerung seine Arme und Beine und seinen Kopf schüttelte. [...] Das Ding zwischen seinen Beinen schüttelte mit, sah harmlos aus wie ein Weichtier. Nach der Geburt von vier Kindern findet man dieses Weichtier allerdings nicht mehr harmlos. Man
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