Alle Orte, die man knicken kann
bis zwei Seiten aus sehenswert ist. Der meistfotografierte Blick geht seit zwanzig Jahren von der «Diana-Bank» aus zur Fassade. Die Princess of Wales posierte 1992 in schmerzensreicher Einsamkeit vor dem Mausoleum. Seither bemühen sich pro Tag zweieinhalbtausend Besucher, exakt diese Pose nachzuahmen. Macht eine Million pro Jahr; die Schlange vor der Bank reißt nicht ab. Den Hintergrund menschenleer draufzukriegen ist nur für Mitglieder des englischen Königshauses möglich. Für alle anderen ist das Taj Mahal ein Rummelplatz mit einem brausenden Gewirr unverständlicher Sprachen und einander übertönender Guides. Viele Reisende kommen aus Delhi (sechs Stunden Anreise mit Bus oder Taxi), die meisten aus Agra (zwei Stunden). Sie winden sich durch ein endloses Spalier von Bettlern und Obdachlosen, stehen geduldig an (drei bis fünf Stunden), passieren gnadenlose Sicherheitschecks, liefern auf Befehl der bewaffneten Milizen Proviant und Getränke ab (kein Schmutz im Taj!), erwerben eine Fotoerlaubnis und betrachten dann erschöpft und kaum mehr aufnahmefähig, was zwanzigtausend Zwangsarbeiter vor dreihundertfünfzig Jahren unter Peitschenhieben geschaffen haben: das monumentale Grab für die verblichene Lieblingsfrau eines islamischen Diktators. Marmor und Halbedelsteine, Korallen und Perlmutt wurden verbaut. Alles hat bis heute gehalten, aber nun endlich, endlich, hoffen die Fachleute, wird es zusammenstürzen. Mit etwas Glück bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre. Denn seit der vorbeifließendeYamuna River austrocknet, sind die hölzernen Fundamente des Bauwerks (ähnlich wie bei den Palazzi in Venedig) der Luft ausgesetzt und verrotten. Den Wasserverbrauch der rasch wachsenden Bevölkerung von Agra hatten die Baumeister nicht vorausgesehen. Bereits seit 2010 neigen sich die Minarette in Konkurrenz zum Turm von Pisa. Die Außenwände zeigen täglich wachsende Spalten, und in der Gewölbedecke der Grabkammer öffnen sich klaffende Risse. Diese Kammer der eingesargten Lieblingsfrau ist allerdings ohnehin enttäuschend. Schön ist das Bauwerk nur von außen, besonders in den ganz frühen Morgenstunden, wenn der Eintritt noch nicht erlaubt ist, und am Abend, nachdem man es wieder verlassen hat. Aber Hauptsache, man hat es gesehen, kann davon erzählen und das persönliche Foto ins Web hochladen. Dort wird es schon sehnsüchtig erwartet.
China
B esucher aus dem Westen staunen oft, dass in Peking auch bei Tag der Vollmond zu sehen ist. Beharrlich zieht er als runde Silberscheibe über den Himmel und nimmt nicht ab. Woran liegt das? Daran, dass China auf der anderen Seite des Globus liegt? Nein, an der Luftverschmutzung. Es handelt sich nicht um den Mond, sondern um die Sonne. Sie wirkt nur so bleich, weil sie nicht besser durch die Schwebstoffe dringt. Schwelende Kohlenflöze nördlich von Peking blasen wöchentlich so viel Kohlenstoffdioxid in die Luft wie der gesamte mitteleuropäische Straßenverkehr in einem Jahr. Dazu furzt eine Milliarde chinesische Schweine süßsauer und im Alleingang genauso viel Methan in die Atmosphäre wie der Rest des weltweiten Haustierbestandes. An manchen Tagen bringt das schweflige Licht ahnungslose Fremde sogar auf die Idee, die Chinesen seien gelb. Andere Besucher meinen, man solle sich die Sehenswürdigkeiten ansehen, solange sie überhaupt noch zu sehen seien. Das ist unnötig. Zwar war es eine tolle Marketing-Idee, eine ranzige Burganlage als
Verbotene Stadt
auszugeben, eine ermüdende Wehranlage als
Große Mauer
und eine windige Aufmarschfläche als
Platz des Himmlischen Friedens
. All das klingt verlockend. Doch es verhält sich damit so ähnlich,wie wenn man beim Chinesen den Teller der sieben Köstlichkeiten bestellt. Auf sieben kommt man bei näherem Hinsehen, auf Köstlichkeiten bestimmt nicht.
Die Palette der sieben Scheußlichkeiten
Verbotene Stadt. Diese festungsartige Anlage war keineswegs verbotener als irgendein anderer Palast oder Regierungssitz der Welt und niemals so verboten wie jetzt das Weiße Haus. Es durfte ganz einfach nicht jeder unaufgefordert reinmarschieren. Der mystifizierende Name hat sich jedoch als hilfreich erwiesen für das trübsinnige Ensemble von Bauten. Lediglich vom Hügel dahinter ist die Anlage sehenswert, wenn die Vielzahl der Pagodendächer daraus hervorragt. Wer hingegen innerhalb der Ummauerung unterwegs ist, gewinnt den Eindruck, China brauche keinesfalls noch ein drittes Disneyland (das erste befindet sich in Hongkong,
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