Alle Rache Will Ewigkeit
wird, um zu sehen, ob sie in irgendeiner Form beteiligt ist, dann wird sie nicht wieder töten, falls sie auch nur etwas Verstand hat. Und dann wird sie nie den Preis für ihre Handlungen zahlen müssen. Also muss ich die Chance auf Gerechtigkeit abwägen gegen die Möglichkeit, ein Leben zu retten.«
Lisa zog die Augenbrauen hoch. »Da besteht eigentlich kein Wettbewerb, meine ich. Sie mag nicht freundlich auf den Vorwurf reagieren, aber zumindest kannst du dein Gewissen beruhigen. Die Gerechtigkeit ist doch keine so große Sache, Charlie. Meines Erachtens ist es ein ziemlich dehnbarer Begriff. Lass doch die Toten ihre Toten beerdigen und uns alle nach vorn schauen.«
»Ich wünschte, es wäre so einfach«, sagte Charlie. »Hast du ihr Buch gelesen?
Ohne Reue?
«
»Ja. Ich finde, es ist ein sehr interessanter Lesestoff. Ein solch brutaler Konflikt in ihrer Kindheit, das muss einen doch misstrauisch machen. Sie gibt viel mehr Verletzlichkeit preis, als sie selbst glaubt, denke ich. Ihr extremer Ehrgeiz im Berufsleben ist eine Kompensation dafür, dass sie sich in ihrer Kindheit und Jugend nicht gegen die Kräfte wehren konnte, die ihr gegenüberstanden. Meinst du nicht?« Lisa lächelte. »Schließlich bist du die professionelle Analytikerin.«
»Ich weiß nicht, ob ich es so ausdrücken würde. Ich glaube, es geht ihr immer darum, Gegenwehr aufzubauen. Aber du bist die Spezialistin für Verletzlichkeit.«
Lisa neigte den Kopf, womit sie Charlies Entgegnung anerkannte. »Jenna ist der Schlüssel, nicht wahr? Eine Frau der Extreme. Völlige Liederlichkeit und dann vollkommene Unterwerfung. Da stellt sich mir die Frage, was in aller Welt in den Familienverhältnissen der Mutter los war, dass diese beiden äußersten Grenzpunkte sie anzogen. Wogegen genau rebellierte sie oder worauf strebte sie zu?«
»Und doch ist Jenna in mancher Hinsicht eine recht schemenhafte Gestalt. Was Jay uns erzählt, ist lediglich der Blick des Kindes auf die Mutter. Das Kind nimmt vieles von dem, was geschieht, nicht wahr, weil es über seinen Verstand geht. Beim Lesen bemerken wir das nicht, weil mit so hohem Tempo erzählt wird. Aber wenn ich es mir überlege, habe ich das Gefühl, über Jenna zu wenig erfahren zu haben.«
Lisa presste kurz die Lippen zusammen. »Vielleicht ist das Absicht. Vielleicht hat Jay Angst, zu viel über sich selbst zu verraten, wenn sie mehr über Jenna offenbart. Ich muss dir ja nicht sagen, wie oft alles auf die Mutter zurückgeht.«
Die Reaktion in Charlies Gehirn war fast körperlich. Lisas Worte hatten etwas in ihrem Kopf angestoßen, wie der Stein, der ins Rollen kommt und die Lawine auslöst. »›Niemand hat seit damals etwas von ihr gehört oder gesehen.‹ So steht es im Buch.«
»Ein schreckliches, endgültiges Verlassenwerden«, sagte Lisa. »Manche Leute meinen, es sei in Ordnung, seine Kinder zu verlassen, wenn sie Jugendliche sind und alleine auskommen können. Aber in vieler Hinsicht ist das die verwundbarste Zeit.«
»Für Jay war es kein wirklich schreckliches Verlassenwerden. Eigentlich eher ein Ergebnis. Sie wurde nicht an irgendeinen vertrockneten Geistlichen verheiratet. Sie durfte nach Oxford gehen und entkam der dumpfen Unterdrückung der Pfingstkirche. Dass ihre Mutter verschwand, war ihr Glück«, sagte Charlie langsam und betrachtete den Gedanken, der ihr gerade gekommen war, von allen Seiten, um zu sehen, ob sich wirklich der Sinn daraus ergab, den sie darin erblickt hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich es so sagen würde«, meinte Lisa und schaute Charlie an, als sei sie sich ihrer nicht mehr ganz sicher. »Ich glaube, Jay hat ein schreckliches Trauma bemerkenswert gut überwunden.«
Charlie stand gerade auf, als die Türglocke läutete. »Ich muss nach Roker fahren«, sagte sie.
Lisa schien verdutzt. »Wohin?«
»Wo Jay herkam. Ich muss herausfinden, was aus ihrer Mutter wurde.«
»Wir wissen, was aus ihrer Mutter wurde. Sie lief mit dem holländischen Freund davon.«
»Der leugnete, mit ihr weggelaufen zu sein.« Charlie begann, auf die Tür zuzugehen.
»Warte«, rief Lisa. »Was sagst du da?«
»Ich muss recherchieren, was aus ihrer Mutter wurde«, wiederholte Charlie benommen. »Da ist jemand an deiner Tür«, fügte sie hinzu, als es wieder läutete.
Lisa sprang vom Sofa auf und holte sie im Flur ein. Sie legte Charlie eine Hand auf den Arm. »Ich dachte, du hättest diese verrückte Suche aufgegeben?«
Charlie drehte sich um und lächelte. »Nicht, solange es
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