Alle Singen Im Chor
– außer Antti.
Das Kyykkä-Spiel wirkte nicht gerade temporeich, und die mit Bierflaschen ausgerüsteten Spieler machten auch keinen besonders sportlichen Eindruck. Kyykkä schien eine Art finnische Petanque-Variante zu sein. Nachdem ich eine Weile zugeschaut hatte, begriff ich, dass die eine Mannschaft versuchte, ihr Holzstöckchen so zu werfen, dass es die Stöckchen der anderen Mannschaft traf und aus dem markierten Quadrat trieb. Jetzt war Tuulia an der Reihe. Mit wehenden Haaren legte sie einen souveränen Wurf hin, der drei gegnerische Stöckchen aus dem Quadrat trieb und ihr begeisterte Anfeuerungsrufe eintrug. Sie bewegte sich mit faszinierender Geschmeidigkeit, sie wirkte knabenhaft und weiblich zugleich. Ich wandte den Blick ab. Jyri stand ganz in meiner Nähe und feuerte Tuulia an.
«Hallo, Maria», sagte er müde, als er mich erblickte. «Wolltest du dir das Spiel mal ansehen?»
«Hast du Antti gesehen?», fragte ich zurück. Jyri wurde auf einmal ganz zapplig.
«Du, ich hab versucht, ihn anzurufen, ehrlich, aber er war nich zu Hause und nich bei der Arbeit. Ich hab gedacht, ich würd ihn hier treffen.»
Offenbar glaubte er, es ginge um seine Unterschlagungen, über die er ja mit Antti sprechen sollte. Aber wo, zum Teufel, steckte dieser Sarkela? Ich winkte Piia, die mir neugierige Blicke zuwarf, beiseite.
«Ihr wart doch im Frühjahr mit der ‹Marlboro› in Tallinn?»
«Ja, Anfang Mai. Ich glaub, es war das Muttertagswochenende, jedenfalls war es schrecklich kalt. Wieso?»
«Wer ist da alles mitgefahren?»
«Ich und Peter, Peters Vater. Jarmo und seine Freundin. Niklas Bergman, der ist jetzt auch bei der Regatta dabei. Sirkku wollte auch mal segeln, und sie hat natürlich Timo mitgebracht. Antti und Tuulia sind auch mitgefahren.»
«Zehn Leute?»
«Ja. Wir waren am Abend noch in einem Konzert des Kammerchors der Estnischen Philharmonie, das Jukka unbedingt hören wollte.»
«Erinnerst du dich, wie die Zollkontrolle bei der Rückkehr war?»
«Die Zollkontrolle? Nicht der Rede wert. Regattaboote werden meistens nicht kontrolliert.»
Es sah tatsächlich so aus, als ob sich auf der «Marlboro» Rauschgift einschmuggeln ließ. Ich bat die Chormitglieder, Antti auszurichten, er solle mich anrufen. Niemand wunderte sich über seine Abwesenheit, niemand wusste etwas von ihm. Niemand wirkte nervös oder schuldbewusst.
Antti hatte seine Eltern gesehen, nachdem er am Samstagabend meine Wohnung verlassen hatte. Danach hatte niemand mehr etwas von ihm gehört. Am Samstagabend nach der Beerdigung waren Mirja und Piia zu Hause gewesen, was ich selbst bezeugen konnte, Sirkku und Timo waren nach Muuriala gefahren, Jyri und Tuulia hatten gemeinsam in einer Kneipe gesessen. Hatte einer von ihnen Antti getroffen?
Ich radelte zurück zum Präsidium. Es war erst kurz vor acht. Tapsa hatte Koivu ins «Pikkuparlamentti» begleitet, sie hatten auf meinem Tisch eine lakonische Nachricht hinterlassen: «Wir sind auf der Jagd nach Tiina. Mattinen ist letzte Woche Montag nach London geflogen. Mist. Interpol eingeschaltet. Koivu & Helminen.»
Mattinen hatte sich erst nach Jukkas Tod abgesetzt. Vielleicht war er doch der Mörder? Wenn er am Montag vor einer Woche schon in London angekommen war, war er wahrscheinlich trotz Interpol nicht mehr aufzuspüren. Ich ärgerte mich. Noch vor einer Weile war ich ganz begeistert über die Verbindungen, die wir aufgedeckt hatten, aber jetzt sah es so aus, als ob es trotzdem keine Gewissheit gab.
In Anttis Wohnung meldete sich einer seiner beiden Mitbewohner. Gesehen hatte er Antti am Samstagabend nicht direkt. Er war in seinem Zimmer gewesen und hatte geschlafen, weil er anschließend im Krankenhaus Nachtschicht hatte. Im Halbschlaf hatte er aber mitbekommen, wie Antti seinen Eltern Einstein übergab und nach einer Weile offenbar selbst die Wohnung verließ. Seitdem hatte er Antti nicht mehr zu Gesicht bekommen.
«Hat ihn jemand abgeholt?» Das wusste er nicht, er konnte nur mit Sicherheit sagen, dass niemand an der Tür geklingelt hatte.
«Davon werde ich nämlich normalerweise wach, genau wie vom Telefon. Das hat aber auch nicht geklingelt», erklärte er.
«Hat Antti jemanden angerufen?» Das konnte er nicht sagen. Bis auf Jacke und Tennisschuhe schien von Anttis Sachen nichts zu fehlen, allerdings meinte er, so genau kenne er die gar nicht.
Ich rief bei Sarkelas im Sommerhaus an. Sie waren sehr besorgt und wollten in den Zeitungen und im Radio eine Vermisstenmeldung
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