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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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ein zweidimensionales, unscharfes Bild deiner Nase am je nach dem rechten oder linken Rand deines Sichtfelds. Wenn du das Auge wieder öffnest, verschwindet deine Nase aus der Welt. Weltbewegend ist das nicht, aber: Ich werde die Welt nie ohne den Schatten meiner Nase sehen. Ich rage in die Welt hinein.
    Seitdem ertappe ich mich dabei, dass ich, wenn ich so dasitze und nachdenke, oder nicht nachdenke, nur einfach so dasitze, nachdem ich den Blick vom Text gehoben habe, weil man ab und zu, häufig, den Blick vom Text heben muss, ein Auge zukneife und diese bemerkenswert holprige Linie meiner Nase anschaue. Kurz und gut, dachte Mercedes, es führt kein Weg dran vorbei, es ist wahr, es ist in der Welt, so offenbar, dass es lächerlich wäre, weiter zu leugnen: Ich liebe dich.

    Dachte: Ich liebe dich, nahm ihre Tasche, ich arbeite heute zu Hause, und fuhr in die Sackgasse an der Bahn. Nahm den Schlüssel, öffnete die Tür. Die Treppen sind steil, auf halbem Wege geht die selbst an sonnigen Tagen erforderliche Flurbeleuchtung aus. Tapsen durch ein taubstummes Haus. So still, als würde gar keiner hier wohnen. Das übliche Gruseln im Dunkeln, in der Fremde. Ganz oben endlich heimeligere Geräusche. Ein Radio. Etwas außer Atem dastehen, horchen, woher es kommt. Unbestimmt. Vorsichtig das Ohr an die Tür legen. Kühle Farbe. Die Musik kommt woanders her. Durchatmen. Aufschließen. Das erste Mal die Wohnung des Ehemannes betreten.
    Und gleich überwältigt stehen bleiben und mit ich weiß nicht was kämpfen angesichts von: all dem. Dem Geruch (bitter-säuerlich), der Temperatur (schwül), der Form des Raumes (zerklüftet), den Geräuschen (dumpfe Musik hinter dem Küchenschrank), der Einrichtung (keine, außer einpaar umherliegenden schwarzen Kleidungsstücken und Wörterbüchern, wie Meteoriten eingeschlagen in den schmutziggrauen Boden), und über allem, durch diesen düsteren Burgsaal der heillosen Einsamkeit taumelnd: die Lichtreflexionen eines draußen vorbeiziehenden Zuges.
    Wie in Zeitlupe: draußen die unbekannte, haushohe Maschine, eine schwere Fracht, qualvoll langsam über die Schienen gezogen, und hier drin: eine Frau, in der Tür stehend, ein Mann, auf dem einzigen Stuhl am Schreibtisch sitzend, und zwischen ihnen, das Tempo mit gutem Gespür auf das des Zuges abgestimmt, ein nackter Knabe, der sich um seine eigene Achse dreht. Er zeigt sich seinem Betrachter – das heißt: inzwischen zweien – von allen Seiten. Vanillefarbener Rücken, Hintern, Beine, Arme, Seite, Brust, Bauch, Geschlecht…
    Oh, sagte der Junge, als er sich soweit herumgedreht hatte, dass er Mercedes sehen konnte. Eine Weile standen sie da. Dann lachte der Knabe los. Stand da mit seinem schönen Körper und lachte. Was ihr Ehemann für ein Gesicht bei all dem machte, weiß Mercedes nicht, sie konnte nicht hinsehen, an dem Körper vorbei, sie sah nur aus dem Augenwinkel, dass sich das schwarze Kleiderbündel im Sessel nicht einen Deut rührte.
    Verzeihung, flüsterte sie, senkte den Kopf, ging. Dabei musste sie noch einmal innehalten, den Schlüssel irgendwo ablegen. Aber es gab nichts, kein übliches Tischchen, nur den Fußboden. Werfen wollte sie ihn nicht, also musste sie sich bücken, mit dem Rücken zu den anderen beiden, ihn hinlegen. Die Türklinke, dann war sie endlich draußen. Hinter ihr rührte sich die ganze Zeit nichts.

    Er war wegen des Zweitschlüssels zu Thanos gegangen, blieb dann aber etwas länger, als man dafür braucht, insgesamt zwei Tage, und ging erst mit der Sperrstunde am Montag. Diesen Jungen, den er dort aufgetan hatte, nahm er mit.
    So, sagte er, als er annahm, seine Frau habe nun das Treppenhaus verlassen. Und jetzt verpiss dich.
    Nicht nötig, so roh zu sein, sagte der Junge. Ich kann für nichts.
    Bitte, sagte Abel. Zieh dich an und geh. Oder zieh dich nicht an. Hauptsache, du gehst.
    Danach dauerte es einen weiteren Tag, bevor er sich bei Mercedes meldete.
    Entschuldigte sich höflich für die Unannehmlichkeiten.
    Sie schwieg.
    Von außen betrachtet, sieht er wie ein ganz normaler Mann aus, Korrektur: ein ganz normaler Mensch , Korrektur: verwerfe den ganzen Satz, weil Mercedes noch rechtzeitig einfiel, dass auch der erste Teil, dieses »von außen betrachtet« bei einem Menschen (Mann) überhaupt keinen Sinn machte und somit am Ganzen nichts mehr war, das, ausgesprochen, einigermaßen sicher dagestanden hätte. Nichts stand einigermaßen sicher da. Manchmal zweifle ich, ob überhaupt ein einziger

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