Alle Tage: Roman (German Edition)
Mann mittleren Alters, Brille, Vollbart. Da hatte er noch eine Minute. Er zögerte, dann tippte er mit zitternden Fingern – die Eile! – »Andor Nema« ins Feld. Anschließend sah er zu, wie die Uhr sekundenweise rückwärts gegen 0 lief, und auf dem Bildschirm stand dasselbe: 0 Ergebnisse.
In der einen Hand Miras Brief, in der anderen der Schlüssel. Aus der Nachbarwohnung sickerte schmalzige Musik. Er öffnete die Tür, schloss sie hinter sich.
Später fand er sich auf dem Boden kauernd wieder, wie ist er nackt geworden, keine Erinnerung, hinter den Fenstern pockennarbiges Licht, wütende Winde, er krümmte sich um sein rasendes Herz, das war schon einmal so, lange her, ich wohnte noch in einem Schrank. Er schlug mit der Stirn auf den Teppich, Schmutzkrümelchen blieben auf der Haut kleben, rieselten herab. Atemnot, husten, trinken, Wasser aus dem Hahn trotz Schluckbeschwerden, wieder husten oder doch nicht, das macht es nur noch schlimmer. Irgendwann rappelte er sich soweit auf, dass er sich auf den Balkon hinaustasten konnte. Er setzte sich auf den Rost, in den Fahrtwind, atmete durch den Mund und sah zwischen den zugigen Gitterstäben den Waggons zu, die ziehen, ziehen, ziehen, Kohle, Getreide, Abfall, Menschen, jetzt ist gut, jetzt ist gut.
Er ging ins Zimmer zurück, nahm eine Dusche, fuhr zur Party seiner Frau. Der Rest ist bekannt. Zurück ging er zu Fuß. Wenn es schlimmer wurde, blieb er stehen, stützte sich auf, atmete, bis es wieder besser wurde. Einmal drückte er die Stirn gegen eine Telefonzelle. Der Abdruck hatte die Form eines Schmetterlings.
Seitdem lebt er zurückgezogen. Die Hälfte der Zeit in der Klapsmühle, die andere Hälfte übersetzt er skurrile Geschichten. Die Welt ist voller Verrückter. Man hält sich über Wasser. Vom Nachbarn ist die meiste Zeit nur die Musik zu hören. Stört sie? Nein. Nichts. Egal.
Noch Fragen
Die Aufgabenstellung für die nächsten Tage war soweit klar. Eins: Papiere ersetzen. Angenehm ist das nicht, allerdings auch nicht unlösbar, wenn man sich ein wenig zusammenreißt. Wieder andererseits ist das nichts, was nicht bis morgen warten könnte. Oder übermorgen. Oder, sagen wir, Donnerstag, wenn ich sowieso wieder hinaus muss (zwei): Omar im Park treffen. Seit einem Jahr der einzige feste Termin der Woche.
Bis Donnerstag, flüsterte Omar auf den Treppen vor dem Gerichtsgebäude in der Deckung von Abels Profil in dessen Ohr. Abel antwortete nicht, drückte nur seine Hand etwas fester.
Also, sagte Omar ein Jahr zuvor zu seiner neuen Französischlehrerin, der Deal geht so: Sie bekommen das Geld, dafür unterrichten Sie mich nicht. Mein Stiefvater unterrichtet mich. Wir bleiben auf dieser Bank dort sitzen, im Park, sofern es das Wetter erlaubt. Sie können uns von Ihrem Fenster aus sehen. Ich bleibe vierzig Minuten bei ihm. Danach komme ich zu Ihnen zurück und erzähle Ihnen in fünf Minuten, was ich heute gelernt habe. Und Sie erzählen es auf Aufforderung meiner Mutter.
Ich weiß nicht, sagte die Lehrerin, ihr Name ist Madeleine, ich weiß nicht, ob ich das ver …
Wir rühren uns nicht von der Bank. Wir reden nur.
Im Winter wird es um diese Zeit schon dunkel, und man kann nichts sehen. Entschuldigen Sie, sagte Madeleine in einen Mantel gehüllt. Aber das geht so nicht. Kommen Sie bitte in die Wohnung.
Einmal war Mercedes zu früh gekommen, um den Jungen abzuholen. Madeleine versteckte den Mann im fensterlosen Bad. Schlechte Idee, was, wenn sie es benutzen will. Will sie nicht. Hinterher entschuldigte er sich für die Unannehmlichkeiten.
Was haben Sie verbrochen? Sie wollte es fragen, fragte es doch nicht. Später wurde es wieder Frühling. Sie saßen wieder auf der Bank.
Kann ich dich was Persönliches fragen? fragte Omar. Respektive: Darf ich es?
Abel lächelte: Ja und ja.
Wen hast du am meisten in deinem Leben geliebt?
Wie aus der Pistole geschossen: Ilia. Sag das nicht. Sage, was der Wahrheit am nächsten kommt: Das bist du.
Bei mir ist es Mercedes, sagte Omar.
Abel nickte verständnisvoll. Natürlich. Schließlich ist sie deine Mutter.
Pause.
Warum? fragte Omar.
Was warum?
Warum liebst du mich?
Ich weiß nicht. Es ist einfach so.
Hm, sagte der Junge. Ich habe dasselbe gesagt.
- - -
Wie lange wird das noch so gehen? fragte Omar letzte Woche.
Ich weiß es nicht.
Du sagst immer: Ich weiß es nicht.
Weil ich es nicht weiß.
Zuerst dachte ich, das sei ein Zeichen dafür, dass du weise bist.
Und heute?
Heute weiß ich es nicht
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