Alle Tage: Roman (German Edition)
normal, bis auf den Umstand, dass er daran festhält, im Himmel gewesen zu sein. Wir sind nicht einmal religiös.
Sie sah durchs Fenster. Diesen Himmel an. In Abels Wohnung klingelte das Telefon. Man weiß nicht, ob sie es auch hören konnte, sie zeigte es durch nichts an. Eines der Säckchen rutschte vom Tisch. Abel hob es auf.
Wir sind sechs Geschwister, sagte Wanda zum Fensterglas. Ich bin die Älteste, Halldor ist der Jüngste. Wir sind alle miteinander Kartoffelbauern. Wir reden von morgens bis abends über Kartoffelanbau oder über unsere Kinder und, natürlich, über die Krise, in der wir stecken. Unser einziger Abnehmer, ein Pommes-frites-Hersteller, nimmt uns nicht genug Ware ab. Die Hangars sind voll. Zum Glück hat man die Familie, seit acht Monaten verzichten wir aufs Gehalt und essen Kartoffeln. Wie lange kann eine Familie von zwanzig Personen von viertausendfünfhundert Tonnen Kartoffeln leben? Bis sie verrotten. Wir klagen nicht, wenn es gut läuft, werden wir Millionäre, aber wir können eben über nichts anderes reden. Und Halldor? Halldor kann über nichts anderes reden als über sein Chaos, und keiner von uns versteht auch nur ein einziges, beschissenes, Entschuldigung, Wort. So sieht es aus. Wir lieben ihn. Er ist unser … Gott. Verstehen Sie. Dabei sind wir gar nicht gläubig. Er ist das, was wir nicht begreifen. Die Worte, die wir an ihn richten, kommen uns wie Gestammel vor. Er ist unser Idol, wir lieben ihn, wir verwöhnen ihn, seitdem er auf der Welt ist, aber gleichzeitig fürchten wir uns und würden uns am liebsten vor ihm verstecken. Wenn wir in die Stadt kommen, besuchen wir ihn immer seltener. Ich war noch nie in dieser Wohnung. Und er besucht uns nicht. Seit wann kennen Sie ihn?
Drei Jahre.
Haben Sie in dieser Zeit irgend jemanden hier gesehen?
Nein. Aber er hatte auch nicht darauf geachtet.
Mein Herz bricht, sagte Wanda und sah wieder zur Balkontür hinaus. Die Himmelstücke flimmerten hinter ihrem Profil.
Später ging Abel in seine eigene Wohnung zurück. Der Anrufbeantworter zeigte einen Anruf an.
Insgesamt sieben, nein: sechs Personen kennen diese Nummer. Will ich im Moment von wenigstens einer davon eine Nachricht bekommen? Was sagt die Erfahrung? Die Erfahrung sagt, man weiß besser gleich, was es zu wissen gibt. Er drückte den Knopf.
Freitag, sagte die Stimme. Der und der Zug.
Als Ilia endgültig starb, hatte ihn das mit einer Wucht getroffen, dass er aus seiner Umlaufbahn flog, mit einem Knall auf dem harten, grauen Fußboden aufkam und praktisch nicht mehr aufstand. Als man ihn vor kurzem anrief, um ihm dasselbe über Kinga mitzuteilen, war es quasi wie nichts. Es schmerzt mich selbst, aber es ist die Wahrheit.
Man hatte sich schon seit einer ganzen Weile aus den Augen verloren. Seit der Drachengeschichte hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Er dachte manchmal an sie, rührte sich dann aber doch nicht. An dem Tag, als Ilias Todesnachricht kam, war sie die Erste, die ihm einfiel. Nachdem der Anfall vorbei war: die Erste. Hinfahren. Den Kopf in ihren Schoß legen. Sämtliche Drogen im Haushalt konsumieren. Zungenküssen. Aber dann schien für den Moment die Geburtstagsparty die weniger schmerzvolle Alternative zu sein. Später, als er sich von den Skandalen , die diese Entscheidung nach sich zog, erholt hatte, ging er nach Kingania, aber sie wohnten nicht mehr da. Er presste das Ohr an die Tür und hörte, dass dort seit einiger Zeit niemand mehr wohnte. Nur ein Berg aus Gegenständen, den sie zurückgelassen hatten. Im Internet kam ihr Name nicht vor, auch über die Musiker fand er nur Hinweise auf alte Auftritte. Vielleicht hatten sie die Stadt inzwischen verlassen. Das war’s also. Damit hatte er im Grunde keine Kontakte mehr. Ab jetzt wechselte er ein Jahr lang außer gelegentlich mit dem Nachbarn und dem Wirt Thanos praktisch mit niemandem mehr ein Wort.
Später klingelte das Telefon.
Ist dort Abel N.?
Er hätte nicht sofort sagen können, welcher der dreien es war.
Sie ist aus dem Fenster gesprungen, sagte die Stimme. Nur für den Fall, dass es dich interessiert. (Das hörte sich nach Janda an. Herzklopfen.)
Das interessiert mich allerdings.
Wann?
Gestern vor einer Woche.
Pause.
Wann ist die Beerdigung?
Es gibt keine Beerdigung.
Schweigen. Was habt ihr vor? Sie in den Fluss zu schmeißen?
Wir schicken die Asche nach Hause. (Das ist jetzt wieder eher Andre.) Sie wollte verstreut werden.
Verstehe. Wann?
Weiß noch nicht. Wir haben das Geld noch
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