Alle Tage: Roman (German Edition)
gar nicht hinzuschauen, was wächst da? Wenn jetzt auch noch das Winzigste passiert, springt er aus dem eigenen Taxi, hinein in den fühllosen Verkehr, vor die Räder seiner Kollegen, ein Kegel mit Turbankopf. Als könnte man vor der Beule, der Angst wegfahren, reißt er das Lenkrad nach links, der Wagen schleudert, in Abels Magen steigt eine Welle Übelkeit auf, aber er hält die Augen weiter fest geschlossen und den Kopf in den Sitz gepresst, bis der knarzende Druck gegen die Trommelfelle nachlässt. Auch so muss es der Fahrer mehrmals wiederholen, bis er ihn hört: Wir sind da. Das ist die Adresse.
Hebt den Kopf, auf der Stirn der Abdruck der Rückenlehne, und als käme er aus dem Schwimmbad, ansonsten ein ganz normales, moderates Gesicht. Fummelt in der Innentasche des Mantels, holt einpaar von seiner Scheidungsanwältin geliehene Scheine hervor – Ausgerechnet dir miesem Schnorrer werde ich was davon geben! –, zahlt, ein bisschen besser als normales Trinkgeld.
Eine Weile bleibt er einfach auf dem Gehsteig stehen, der Wind macht Flügelbewegungen mit seinen schwarzen Mantelschößen, der Fahrer schaut es sich während des Wendemanövers an. Heute habe ich einen Mann gesehen, der muss aus dem Himmel gefallen sein oder aus der Hölle gefahren, als er in das Auto einstieg, war er noch kein ganzer Mensch, er kämpfte auf der Rückbank um seine Form, grunzte und schwitzte sehr dabei, und später, als er auf der Straße stand, konnte man ihm ansehen, dass er fliegen kann, ein schwarzweißer Mann. Die Frau des Fahrers heißt Amina, sie schaut ihn aus großen Augen an, den Schweiß an seinem honigfarbenen Hals.
Beim ersten Mal denkst du noch –. Mit der Zeit bekommt man Übung. Der Wind ist wohltuend wie ein Kampferbonbon, eine Weile darin stehen, das ist gut. Nur einpaar Minuten, dann machte sich Abel auf den Weg nach oben.
Was es ist
Als er das Haus am Morgen verließ, echote der Radiowecker nebenan, der über eine Stunde vorher losgegangen war, immer noch durchs Treppenhaus. Jetzt ist es Nachmittag, still. Was man mit einem Supragehör still nennt. Während er vor seiner Wohnungstür steht und mit dem Schlüssel kramt, kommt es Abel zum Beispiel ganz deutlich so vor, als würde sich etwas oder vermutlich: jemand in der Nachbarwohnung bewegen. Was ungewöhnlich wäre. Normalerweise ist Halldor Rose montags um diese Zeit nicht zu Hause. Jetzt: als ob Schritte, Scharren. Abel registriert es und kümmert sich nicht weiter. Schließt die Tür auf, hinter sich wieder zu, zieht die verschwitzten Klamotten aus und die vor zwei Nächten frisch gewaschenen an. Sie riechen etwas nach Tasche und Waschsalon.
Und jetzt?
Der Computer ist ausgeschaltet, der Bildschirm staubig. Als wäre sehr lange keiner mehr hier gewesen, dabei ist es erst Stunden her. Das letzte unglaubliche Wochenende ist noch nah, ebenso wie alles andere. Alles ist hier, als wäre es Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag geschehen und heute wäre Freitag. In Wahrheit ist es immer noch Montag, ein gar nicht so später Nachmittag. Die Schnittwunde am Fuß pocht. Sich hinsetzen. Oder noch besser: legen.
Bevor sie aus den Fugen geraten, sind die Dinge meist unspektakulär. Man lebt, mal so, mal so. Von Abel Nemas bisherigen Versuchen ist das Leben in verschiedenen Gefängnissen und mannigfaltig gewalttätigen Beziehungen erwähnenswert. Zum Beispiel fährt man in die sogenannte Sommerfrische mit einpaar feindseligen Freunden, und dann.
Ja, fangen wir hier wieder an, bei der Tournee, das heißt: bei ihrem abrupten Ende, um das so viel Aufhebens gemacht worden ist; verständlich, wenn man die Umstände bedenkt. Über die Nacht nach ihrer Trennung im Kohlfeld weiß man nichts, später stand er in der Tankstellentoilette vor dem verschmierten Spiegel, sah sein Gesicht, daneben das Foto im Pass, ging hinaus, sah sich um, was sonst noch da war. Nicht viel: Straße, Bäume, weiter weg Häuser. Jetzt: überallhin.
Aber schließlich tat er doch nur das, was er in einem anderen Maßstab schon die ganze Zeit getan hatte. Er fuhr kreuz und quer durchs Land, respektive die angrenzenden, soweit er eben kam, ohne den Pass vorzeigen zu müssen. Ich habe eine neue Identität, benutze sie aber nicht. Kontra hatte auch Geld in der Tasche und sogar eine Bankkarte, aber Abel fuhr lieber per Anhalter. Was heißt: Anhalter. Nicht, dass er ein einziges Mal den Daumen rausgehalten hätte. Er ging vor sich hin, und die Leute hielten an und fragten, ob sie ihn mitnehmen
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