Alle Tage: Roman (German Edition)
Normalwerte an. Es ist mir etwas peinlich, über mich zu sprechen, andererseits wünschte ich mir, du würdest endlich aufmerksam auf mich. Nicht, dass ich sonst keine Möglichkeiten hätte. Es gibt sogar Leute, die mich anziehend finden. Na ja, bei den Knaben weiß man’s leider am wenigsten. Ich habe zuviel Macht über sie. Das Alter und überhaupt. Obwohl, in Wahrheit hat der die Macht, der sich unterwirft. Hiermit unterwerfe ich mich.
So weit draußen waren wir noch nie. Siehst du den verkohlten Baum da drüben? Ist er nicht schön? Die Hütte daneben ist auch putzig, sie ist aus Öldosen und Mehlsäcken gebaut, oder ist es eine Barrikade? Das war nicht besonders geistreich? Tut mir Leid. Ich möchte dich unbedingt beeindrucken, das bringt mich immer wieder in Gefahr, übers Ziel hinauszuschießen. Wobei ich noch nie eine Waffe in der Hand gehalten habe. In der Schule hatte man die Handgranaten durch Metallstücke mit Holzgriff ersetzt, und die Toiletten stanken wie jetzt diese Lagerlatrinen zu beiden Seiten des Wegs. Schön würde ich das nicht mehr nennen. Glücklicherweise habe ich seit längerem nichts mehr gegessen. Irgendwann unterwegs ist mir der Appetit vergangen. Obwohl die Ersten, denen man verzeiht, für gewöhnlich die heimischen Speisen sind.
Jetzt verstehe ich. Du bist der, der durch die Trümmerlandschaften zwischen den vier Flüssen wandert, wo die Straßen übersät sind mit Schlaglöchern. Unter dem gebrochenen Asphalt lugt rötlicher Wüstensand hervor. Wie gerne würde ich zum Sternenhimmel hinaufsehen! Aber du zwingst mich dazu, nur vor meine Füße zu sehen. Die Knöchel schmerzen. Meine Schuhe sind abgelaufen. Überall wird vor Minen gewarnt. Wir können die Straße nicht verlassen, nicht in die verlockenden Obsthaine gelangen, komm, wir legen uns unter einen Baum. Wir müssen hier bleiben, wo zerlumpte Kinder, sind sie schwarz oder nur sehr braun gebrannt?, am Wegesrand stehen und mit den Händen Staub in die Löcher schaufeln: Seht, wie wir sie reparieren! Der Wind hebt ihn sofort wieder heraus. Der Fahrtwind eines vorbeibrausenden Jeeps. Das praktischste Fahrzeug bei unsicheren Straßenverhältnissen, wie sie nach kriegerischen Auseinandersetzungen und fortgesetzter Misswirtschaft häufig vorherrschen. In die Seitenfenster kann man kleine Schlitze kurbeln, durch die man zerfledderte Geldscheine nach außen schiebt. Der Fahrtwind reißt sie davon, das ist von Vorteil, solange sie ihnen übers Feld nachjagen, ist die Gefahr, dass sie unter die Räder geraten, geringer. Was sie auch immer tun, sie hören nicht auf, pao, pao zu schreien. Ein anderes Wort kennen sie gar nicht. Sie nennen alles pao: das Brot, den Baum, den Stein, ihren Vater, ihre Mütter und Schwestern. Uns natürlich auch. Ist das mein wahrer Name? Pao? Stehen am Straßenrand, pao, pao, ihre Arme sind so lang, dass sie bis zu uns in die Mitte der Straße reichen.
Hier, ich habe einpaar alte Münzen gefunden. Vielleicht sind sie noch gültig. Was anderes habe ich sowieso nicht. Du gehst vor mir, drehst dich nicht um, siehst meine gute Tat nicht. Ich verteile mein antikes Erbe an die Armen der Welt. Ein wenig sorge ich mich, dass es nicht reichen könnte, wie viele Münzen habe ich überhaupt, in meinen Taschen haben sie kein Gewicht. Ich verteile und verteile, streue rostige Münzen in kleine Hände wie Samen in die Erde. Meine Augen sind tränenverschleiert. Ich bin nicht gerührt. Ich habe Angst.
Dann ist es vorbei, die Kinder sind verschwunden, ebenso die Straße, wir stehen wieder in der Stadt. Die Sonne geht unter. Der Muezzin schreit. Seit damals habe ich das nicht mehr gehört. Du stehst vor mir, hast dich doch umgewandt, hebst die leere Hand.
Ich weiß, was du willst. Du kriegst sie nicht, bevor du nicht mit mir gesprochen hast. - - - Ein Wort. Sag nur ein Wort. - - - Ich liebe dich. Ich hasse dich. Aber ich liebe dich. Könntest du nicht wenigstens einmal, leise, hier hört uns keiner, mit nicht genau diesen Worten sagen: Ich dich auch?
Stehst nur da, hältst die Hand auf. Wenn ich jetzt hier einfach stehen bleibe mit dir, in alle Ewigkeit, was tust du dann?
Ich weiß, hörst du?, ich weiß , dass du mich auch geliebt hast. Du hast nur mich geliebt. Statt Gott – mich. So sehr, dass du mich ganz und gar aus deinem Herzen verbannen musstest. Da hast du die Wahrheit, ungläubiger Hund!
Du wartest geduldig. Man kann dich nicht mehr beleidigen, noch ist es nötig, sich zu entschuldigen. Du weißt alles über
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