Alle Tage: Roman (German Edition)
mich. Du hast Recht, ich werde nicht weinen. Ich hole die letzten zwei Münzen aus meiner Tasche. Eine davon gehört dir.
À chacun sa part, sage ich und lege sie in deine Hand.
Du öffnest den Mund. Ist dahinter eine schwarze Höhle? Ich schaue hin, ganz so, als gruselte es mich nicht. Ich weine nicht, obwohl du ab jetzt nie mehr zu mir oder zu irgend jemandem sprechen wirst. Du nimmst die eiserne Hostie und für einen kurzen Augenblick der Glückseligkeit sehe ich deine Zunge. Die höchste Freude, die ich je empfunden habe, durchflutet meinen Körper. Eli! Eli! Eli! Ich habe ihm meine Blume geschenkt, kurz darauf ist mein Geliebter gestorben. Ich weiß nicht, wie es geschah, ich war nicht dabei, ich war es nicht, er schlief friedlich ein, denn wenn das Herz stillsteht, ist man tot, doch vorher hat er mich noch entjungfert. Mehr kann ich nicht verlangen.
Also schön, sage ich schließlich, nachdem ich lange allein war. Also gut. Ich werde mich erkenntlich zeigen und sprechen. Lange, fundiert und hymnisch werde ich über die Sprache sprechen, welche die Ordnung der Welt ist, musikalisch, mathematisch, kosmisch, ethisch, sozial, die grandioseste Täuschung, dies ist mein Fach. Ein Mensch kann zweihundert verschiedene Gesichtsausdrücke produzieren, um seinen Befindlichkeiten Ausdruck zu verleihen. Etwa gleichviel Töne kann ein Säugling hervorbringen. Später lernt er seine Muttersprache und vergisst den unnützen Rest. Das nennt man Ökonomie. Er lernt durch richtige Beispiele ebenso wie durch Fehler, aus denen er die richtige Regel ableitet. Das nennt man: universeller Sprachinstinkt. Gefallen aus von der bratenden Pfanne in das Feuer wir sind . Hiermit definieren wir Translation als Aspekt von Kommunikation, Kommunikation von Interaktion, Interaktion von Handeln. Somit ist Übersetzen, sofern ihm eine Absicht zugrunde liegt: Handeln. All das habe ich einst in einer längeren Arbeit auseinander gesetzt, das Volumen schätze ich auf vierzig Bände, doch leider ist mir alles abhanden gekommen, noch bevor ich den ersten vollendet oder angefangen hätte. So kann’s gehen. Streng genommen war es nicht schade darum. Bei Bedarf kann alles in zahlreichen anderen Werken nachgelesen werden. Zum Beispiel eines Winters, wenn die Heizung ausgefallen ist oder lärmende Fremde die Wohnung belagern. In Bibliotheken ist es meist still und manchmal sogar warm. In der Theorie habe ich dem nichts hinzuzufügen, in der Praxis sieht es so aus, dass ich offiziell zehn Sprachen beherrsche, in Wahrheit sind es unendlich viele. Allein schon meine Muttersprache befähigt mich dazu, zirka zwei Dutzend verschiedene Dialekte zu unterscheiden, manche davon definieren sich als eigenständige Sprache, weil oft schon eine einzige Nuance in einem einzigen Ausdruck eine gänzlich andere Welt ergibt. Mir kann es egal sein, ich mache daraus keine Staatsaffäre. Ich spreche Kajkavisch so gut wie Cavakisch, Stovakisch oder Ijekawisch und sie sind mir alle gleich wert. Ich könnte den Dialekt eines jeden Dorfes dieser Welt lernen. Die noch bestehen und die nicht mehr bestehen. (Was haben die letzten drei Liwen miteinander gesprochen? Was sollen drei, die übrig geblieben sind, schon miteinander reden? Im Übrigen waren es Liwinnen. Die Frauen bleiben immer bis zum Schluss. Sind sie dafür zu beneiden oder nicht? Mal sage ich ja, mal sage ich nein.) Jeder auf der Welt könnte zu mir kommen und zu mir sprechen, ich würde es verstehen. Und wenn es absoluter Nonsens wäre. Gerade erfundenes Kauderwelsch. Kerekökökokex. Diese Fähigkeit ist mir eines Tages ohne weitere Erklärung verliehen worden, ich dachte, ich sterbe, aber ich starb nicht, sondern. Leider – Hüte dich vor den Geschenken der Götter! – hat das einige Nebeneffekte mit sich gebracht. Da gibt es zum Beispiel dieses Hörproblem. Wo ich auch immer bin, an einem öffentlichen Ort, höre ich alle gleich laut sprechen. Ich höre die anderen Dolmetscher in ihren Kabinen, sämtliche Leute im Café, im Park. Deswegen ist es mir oft unmöglich, auf ihre Fragen zu antworten. Es ist einfach zu viel. Nicht immer ist es so, aber häufig, und bedauerlicherweise erwischt es einen meist unangekündigt. Ich sage das nicht, um mich zu verteidigen. Es noch länger zu verschweigen, hat jetzt allerdings auch keinen Sinn mehr. Zu einem Halsnasenohrenarzt zu gehen, fiel mir auch schon ein, aber zum einen habe ich keine Versicherung und zum anderen weiß ich, dass das nichts bringen würde. Körperlich ist
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