Alle Toten fliegen hoch: Amerika
abfällige Blicke. Blicke, die sagten: »Mein Gott, jetzt bleib mal locker.« Eben noch hatte mir das Glück der Denunziation einen Minitriumph verschafft, so einen kleinen gehässigen Glücksrausch, doch jetzt schämte ich mich bereits meines Übereifers, schämte mich für meinen auf den Mörder hinweisenden, in die Luft pickenden Finger. Der überführte Dandy sah mich an, zutiefst gelangweilt, und ich bildete mir ein, seine Gedanken lesen zu können: »Ausgerechnet du? Du Kleinstadt-Würstchen hast mich entlarvt. Na, was soll’s. Hast du gut gemacht, Landei. Brav. Wirst bestimmt mal Polizist. Blöder Provinzarsch.« Da, wo ich heute Morgen hergekommen war, galt ich als durchaus selbstbewusst, manchen sogar als eingebildet. Nichts war mehr davon übrig.
Nach dem Mörderspiel redete Phil zu uns. Auf Englisch! Ich versuchte, zuzuhören, aber meine wachsende Verwirrung verstopfte mir die Gehörgänge. Ich fühlte mich beobachtet, unwohl und allein. »Your year will not always be easy, but we will do everything possible to help you. In the end, however, it will be up to you to make it successful or painful. You will have to be open and have a positive attitude towards all the things that will bombard your life each day in this strange country.« Ich hörte die Worte, verstand aber den Sinn nicht. Dann sprach Phil auf Deutsch weiter, aber mit starkem amerikanischem Akzent, sodass ich wieder kaum etwas verstand. »Kulturschrock«, andauernd hörte ich das Wort »Kulturschrock«. »Nach vier Wochen kommt die Kulturschrock auch zu dir!« »Fruher oder spater: Kulturschrock!« Dann mehrmals das Wort »prude«. »Wenn du bist an die Straand, oder in deine Garten, du musst gucken, dass du nicht bist nacket. Wir Amerikaner sind prude. Natürlich auf die Land ist noch pruder als in die Stadt. Aber lauf besser nicht nacket durch die Wohnung, deine Gasteltern könnten bekommen riesen Schrock.« Phil lachte, und alle lachten mit. »And I tell you one thing: Never forget the three d’s! No drinking, no driving, no drugs! Und weißt du, es gibt viele Klischee uber uns Amerikaner. Dass wir oberflachlich sind. Dass wir schlechte Bildung haben. Dass schlechte Essen gibt. Dickdumm sind. Vielleicht stimmt sogar, aber hey, Amerika is groß, is riesige Land und du kommst und kannst dir selbst Bild machen. Das is die Chance, die du hast. Es liegt an dir. Ich bin sicher, du wirst treffen tolle Menschen. Sei offen fur Neuigkeiten und du wirst sehen, wie unterschiedlich is meine Land, und es nicht nur eine Wahrheit gibt. Vielleicht hilft dir folgende Spruch: There are two little magic words that open every door with ease. One little word is ›thanks‹ and the other little word is ›please‹.«
Dann kam der Test. War es überhaupt ein Test? Konnte man hier durchfallen? Nicht alle konnten genommen werden. So viel stand fest. Die Fragebögen wurden verteilt. Mehrere Blätter. Bei den ersten Fragen hatte man die Wahl zwischen ›unwichtig‹, ›wichtig‹ und ›sehr wichtig‹. Am liebsten hätte ich überall einfach ›unwichtig‹ angekreuzt, um so meine totale Demut zu bekunden. Aber war das geschickt? Da, wo es keine Rolle spielte, kreuzte ich ›sehr wichtig‹ an, aber bei den wesentlichen Fragen ›unwichtig‹. Die wesentlichen Fragen, die über meine Zukunft entscheiden würden, die ich vorsätzlich falsch beantwortete und mit Ausrufezeichen betonte, waren: 1. Wie wichtig ist es für dich, das Jahr in einer großen amerikanischen Stadt zu verbringen? Meine Antwort: unwichtig! 2. Wie wichtig ist es für dich, das Jahr in einer mittelgroßen amerikanischen Stadt zu verbringen? Meine Antwort: unwichtig! 3. Wie wichtig ist für dich die Nähe zur Natur? Meine Antwort: sehr wichtig! 4. Wie wichtig ist dir ein eigenes Zimmer? Das war hart. Das war wahrscheinlich genau die Frage, mit der ich mich aus der Menge der Verwöhnten zur raren Klasse der Anspruchslosen hinaufbefördern konnte. Keiner hier in diesem Raum, da war ich mir sicher, war es gewohnt, sein Zimmer mit jemandem zu teilen. Das war meine Chance! Also meine Antwort: unwichtig! 5. Wie wichtig ist Religion für dich? Nächste Chance! Meine Antwort: sehr wichtig! Nur bei einer einzigen Frage war ich mir sicher, dass eine wahrheitsgetreue Antwort meine Chancen nicht drastisch verschlechtern würde. Auf die Frage ›Wie wichtig ist Sport für dich?‹ antwortete ich ›sehr wichtig!‹ und unterstrich das ›Sehr wichtig!‹ dick. Nach meiner Lieblingssportart gefragt, schrieb
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