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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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meinem Sweatshirt nicht kalt wäre. »No, no!«, antwortete ich, »I am warm.« Sie lachten. Hazel sagte: »Wait till you get to Laramie.« Die Schwester nahm meine Hand und war begeistert, wie warm sie war. Ich hatte tatsächlich immer warme Hände, selbst im tiefsten Winter ohne Handschuhe. Mein Vater sagte stets, das hätte ich von ihm geerbt. Ich überlegte einen Satz. »I like it cold.« Eigentlich wollte ich sagen, dass es da, wo ich herkam, auch oft kalt und selten warm war, aber mehr als »I like it cold!« steuerte ich nicht zur Unterhaltung bei. Hazel sagte: »Well, then you have found the perfect place: Laramie is very cold!« Die eine Schwester hielt noch immer meine warme Hand. Die andere Schwester sagte zu ihr: »Are you sure he likes that?« Sie antwortete: »He is so cosy. Like a little oven. I really could get used to it!« Ein Auto, das ich gar nicht hatte kommen hören, hielt direkt vor unserer Bank. Ein knallrotes Schlachtschiff. Stan stieg aus. Hazel fragte: »Where have you been for such a long time?« Er antwortete und schien genau zu wissen, dass das seine Schwestern amüsieren würde: »Couldn’t find the car in the stupid parking lot. Damn.« Ich wuchtete meine beiden Reisetaschen und die Sporttasche in den Kofferraum, in dem schon zwei eigenartige Koffer lagen. Auf ihnen war großformatig jeweils eine der Schwestern zu sehen. Das kannte ich nicht, mit dem eigenen Porträt bedruckte Motivkoffer.
    Wir stiegen ein. Das Auto hatte nicht nur hinten eine Sitzbank, sondern auch vorne. Das hatte ich noch nie gesehen, nicht einmal davon gehört. Kein Fahrersitz, kein Beifahrersitz, nein, ein weiches, durchgesessenes Sofa. Im Flugzeug war es eng gewesen. Hier, ich saß vorne rechts, Hazel neben mir, Stan fuhr, und die Schwestern saßen, ja, lagen fast auf dem hinteren Sofa, hier in diesem Auto war Platz. Unglaublich viel Platz! Ich konnte meine Beine ausstrecken, den Kopf anlehnen. Sicherheitsgurte gab es nicht. Wir fuhren los, durch die von Leuchtreklamen flankierten Vororte auf dem Highway Richtung Norden, Richtung Wyoming. Ich sah aus dem Fenster. Alles anders: die Farbe der Straßenschilder, die Straßenbegrenzungen, die groß auf die Straße gemalten Zahlen und Pfeile. Die Entfernungsangaben in Meilen. Ich dachte an die Fahrt mit meinem Bruder und seinem Freund nach Frankfurt. Was war das für eine hektische, aufgekratzte Fahrt gewesen! Nicht nur wir im Wagen meines Vaters, alle Autos auf dieser deutschen Autobahn kamen mir rückblickend wie aggressive, aufgescheuchte Hornissen vor. Und hier? Hummeln! Träge durch die vierspurige Finsternis brummende, friedfertige Hummeln. Die Beleuchtung des Armaturenbretts glimmte schwach grün. Der Tacho, die Uhr, versunken, wie in einem Aquarium bei Nacht. Wie viel Uhr war es jetzt eigentlich gerade zu Hause? Ich war immer noch wach vom Kaffee, aber trotzdem zu müde, um mir die Heimatzeit zu errechnen. So viel Licht. Jede Tankstelle, jedes Fast-Food-Restaurant illuminiert wie Bohrinseln in der Dunkelheit. Wir kamen durch einen Ort namens Fort Collins. Stan fragte, ob jemand Hunger hätte. Die Schwestern riefen von hinten im Chor: »That’s for sure!« Beim nächsten McDonald’s bogen wir ein. Ich wollte mich schon zum Aussteigen bereit machen, als Stan sagte: »Let’s eat in the car. We are late anyway!« Wir fuhren um den McDonald’s herum und kamen zu einem Fenster, an dem man direkt bei einer Dame hinter Glas mit Mikrofon aus dem Auto heraus bestellen konnte. Ich nahm einen Double Cheeseburger, Pommes und eine Cola. Wir bekamen mehrere Papiertüten hineingereicht und die Getränke.
    In der Stadt, aus der ich kam, gab es nur zwei Imbisse: den »Dani Grill« und den »Kochlöffel«. Da gab es halbe Hähnchen oder die sogenannte »Meterwurst«. Eine ewig lange Bratwurst, die wie ein aufgerollter Schiffstampen auf dem Grill lag. Wenn man etwas von der Meterwurst bestellte, sagte man nicht: »Ich hätte gerne eine Bratwurst!«, sondern: »Ich hätte gerne von der Meterwurst.« »Wie viel?« »Och, so vierzig Zentimeter!«
    Die Schwestern mussten aufs Klo. Stan sagte »Come on, the burgers are getting cold. Hurry up!«, und Hazel sagte: »It will take a while!« Ich drückte mich aus dem tiefen Sofa und lief ein paar Schritte auf dem Parkplatz umher. Streckte mich, dehnte den Nacken. Ich war schon über zweiundzwanzig Stunden unterwegs. In der Ferne sah ich eine dunkle Wand, aber ich konnte nicht erkennen, ob es Berge oder Wolken waren. Die Schwestern

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