Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Messer, schnitzte das Kerngehäuse raus und bot mir ein Stück von dem Apfel an. »Wenn du groß und stark werden willst, brauchst du Vitamine«, sagte sie, aber ich war nicht scharf auf Obst aus den Popelpfoten von alten Omas.
Auf dem Bahnsteig in Hannover nahm mich Tante Dagmar in Empfang. »Willkommen in deiner Geburtsstadt!«
Wir gingen zum Taxistand. »Zu Fuß gehen können meine Erben«, sagte Tante Dagmar, und dann durfte ich mir aussuchen, was ich zuallererst wollte, Kuchen essen oder in den Zoo oder eine Langspielplatte aussuchen.
Erben hatte Tante Dagmar keine. Sie war auch nicht verheiratet. »Jeden Abend denselben Kerl auffem Sofa, dreißig Jahre lang? Und womöglich Papi zu dem sagen, und der nennt mich Mami?« Soweit komme das noch, aber nicht mit ihr.
Ohne Ehemann mußte Tante Dagmar selbst arbeiten gehen, weswegen sie aber auch viel Geld hatte und mir so mir nichts, dir nichts eine LP schenken konnte, eine von Bruce Low. Noah schrie: Herr, es gießt in Strömen hier! Der Herr sprach: Noah, hurry up und schließ die Tür!
In Tante Dagmars Wohnung war ein ganzes Regal mit Platten voll. Smetana, Mozart, Schubert und Beethoven, Eroica. Die vier Jahreszeiten und der gepfiffene River-Kwai-Marsch. Reinhard Mey live. Der Schwiegermuttermord von Jürgen von Manger.
Honululu, Uppsala und Maratonga.
Als ich schon im Bett lag, kam Tante Dagmars neuer Freund Jörg, der im Rundfunkorchester Flöte spielte, und ich konnte die beiden flüstern hören.
Trompete hätte ich besser gefunden.
Zum Frühstück durfte ich Cola trinken und mir fingerdick Käpt’n Nuß aufs Brötchen schmieren. Als Jörg das sah, ließ er sein Besteck fallen und sagte: »Sorry, mir vergeht der Appetit, wenn ich sehe, wie sich einer Scheiße aufs Brot kleistert«, wovon ich so lachen mußte, daß ich mich verschluckte und Krümel auf den Tisch hustete. Papa hätte mir eine gefenstert, aber Tante Dagmar lachte mit.
Ich durfte auch Kennen Sie Kino kucken und im Funkhaus, wo Tante Dagmar zur Arbeit ging, auf den Händen laufen. Da kriegte ich Applaus, wenn das jemand sah.
Einen Narren an mir gefressen hatte Tante Dagmars Kollegin Frau Leineweber, eine steinalte Dame mit großen Augen hinter den Brillengläsern. Für Frau Leineweber legte ich Sendeprotokolle zusammen und erhielt von ihr jedesmal zwei Mark zur Belohnung.
In der Kantine kaufte Tante Dagmar mir soviel Tortenstücke, wie ich verdrücken konnte. Paradiesisch. Ich sollte mir nur nicht den Magen verderben.
Weil sie keine Zeit mehr hatte, in die Stadt zu gehen, kaufte Tante Dagmar der Kantinentante zwanzig Eier ab, die sie auf dem Rückweg zum Büro in einem offenen Karton vor sich hertrug, und ich durfte einen Blick in das Zimmer werfen, in dem die Agenturmeldungen aus den Tickern gerattert kamen. Indira Gandhi, Tschiang Kai-schek und Papadopoulos.
Im Treppenhaus kam ein Typ mit giftgrüner Fliege an und sagte: »Klatschen Sie doch mal in die Hände, Frau Lüttjes!« Tante Dagmar machte das, und der Eierkarton fiel dem Typen vor die Füße, wobei fast alle Eier kaputtgingen und Eigelb hochspritzte.
»Wenn mir einer so blöd kommt, braucht er sich nicht zu wundern«, sagte sie, als wir zurück zur Kantine gingen, neue Eier kaufen.
Nachhause schrieb ich eine Ansichtskarte mit dem Maschsee vornedrauf. Daß Hannover die Wucht in Tüten sei und daß ich statt Mittagessen immer Kuchen und Negerküsse essen dürfe.
Tante Dagmar hatte Welfenspeise gemacht. »Da könnt ich mich reinsetzen«, sagte Jörg und gab Tante Dagmar zwischen zwei Löffeln einen Kuß auf die Nase. Papa hätte nur gesagt: »Schmeckt wie Zement.«
Über Ostern fuhren wir nach Jever. Am Bahnhof stand Gustav Gewehr bei Fuß, um uns abzuholen. Sein Stottern war nicht mehr so doll wie früher. Er sang sogar was: »Wer hat mein Glied so zerstört?«
Oma strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als wir da waren, und Opa stellte fest, daß ich gewachsen sei. »Du heiliger Strohsack!« In Opas Jugend seien die Menschen alle viel kleiner gewesen. Oder im Mittelalter erst. In die Ritterrüstungen von damals würden heute nur noch Halbwüchsige reinpassen.
Als ich im Schloßgarten eine Ente erschreckt hatte, war Tante Dagmar sauer. »Mit dir kann man nirgendwo hingehen«, sagte sie, und ich dachte zum ersten Mal im Leben daran, ihr was Schlechteres als eine Eins zu geben.
Pfauenfedern fand ich keine.
Die Reise zum Mittelpunkt der Erde war das beste, was an den Feiertagen im Fernsehen kam. Mammutpilze, heiße Dämpfe und
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