Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
geplättet.
Renate reiste über Weihnachten nach England zu Tante Therese. Erst mit dem Zug, dann mit der Fähre, dann wieder mit dem Zug.
Mir war Weihnachten in Deutschland lieber. In England gab es Weihnachten bloß Grußkarten, die auf den Kaminsims gestellt wurden. Schluß, fertig, aus. Das hatte Tante Therese mal erzählt. Tolles Weihnachtsfest: Grußkarten aufreihen. Ich freute mich das ganze Jahr über auf Weihnachten und die letzten Tage davor so doll, daß ich’s fast nicht mehr aushielt. Die Engländer wußten gar nicht, was ihnen da entging.
Beim Winken wehte Renates langer weißer Schal im Fahrtwind.
Es war erst der 22. Dezember, aber vor ihrer Abreise hatte Renate auch die letzten beiden Adventskalendertürchen schon aufgemacht und die Schokolade verspachtelt.
Manche von den Bildern in Renates Kalender kamen mir bekannt vor, und ich hielt meinen eigenen daneben, zum Vergleich. Die Türchen waren verschieden numeriert, aber innen waren an der gleichen Stelle genau die gleichen Bilder. Den Ball, der bei mir am Vierten war, hatte Renate am Zwölften, am Dritten hatte sie das Reh, das bei mir erst am Zwanzigsten kam, und so weiter. Bei den Adventskalendern von Wiebke und Volker war das auch nicht anders. Überall die gleichen Bilder, obwohl vorne auf den Kalendern, bei geschlossenen Türchen, vier unterschiedliche Weihnachtsmänner zu sehen waren.
Mama saß am Eßtisch, knotete die Enden von zerrissenen Gummibändern zusammen und sagte, ich sei ein Einfaltspinsel. »Was soll ich denn jetzt bitteschön tun? Den Herstellern einen Brief schreiben? Sehr geehrte Herren, nach Rücksprache mit meinem Sohn Martin möchte ich Sie fragen, ob Sie die Güte hätten, nächstes Jahr eine Million Adventskalender zu produzieren, bei denen kein Bild wie das andere ist?«
An Heiligabend fuhren wir mit dem Peugeot nach Vallendar zum Gottesdienst. Weil Renate nicht da war, konnte ich am Fenster sitzen, aber ich mußte versprechen, auf der Nachhause-fahrt mit Wiebke zu tauschen.
Macht hoch die Tür, das Tor macht weit.
Bei der Bescherung konnte man wieder mal sehen, daß Mädchen schlechter dran waren als Jungs. Ich kriegte zwei Detektivbücher, ein Märchenbuch, eine Olympiamünze im Wert von zehn Mark und ein neues Brettspiel: Schmugglerjagd. Volker kriegte einen Elektronikbaukasten mit Bausätzen für Morsegeräte und Alarmanlagen, und zusammen kriegten wir einen Tischkicker.
Und Wiebke? Söckchen, karierte Pantoffeln und aus Jever eine Strumpfhose, drei Nummern zu klein.
Für Mama hatte Papa einen Leifheit-Staubsauger besorgt, der ohne Strom funktionierte. Beim Schieben drehten sich die Bürsten von alleine. Wir probierten das mit Tannennadeln, Asche und Locherkonfetti aus. Die Hälfte blieb jedesmal liegen, und Papa ging mit dem Staubsauger in die Garage runter.
Das Märchenbuch war von Onkel Dietrich: Ungarische Märchen.
Schluck. Ob der was von Piroschka wußte?
Ein Paar Strümpfe lag noch rum, zusammengenäht.
»Nicht reißen!« rief Mama. »Sonst sind die doch im Nullkommanichts wieder kaputt!«
Dann rief sie in England an.
Als Festmahl für den ersten Weihnachtsfeiertag hatte Mama ein Kaninchen gebraten, aber das war ein zäher Brocken, trocken und kaum runterzubekommen. »Das hab ich ja nun auch nicht geahnt«, sagte Mama.
In Ermangelung von Zahnstochern schabte Papa sich die Fleischfasern mit einem angespitzten Streichholz aus den Zahnzwischenräumen, und als Oma Jever anrief und wissen wollte, was wir gegessen hätten, sagte er ihr, wir hätten einen etwas ältlichen Karnickelbock seiner gottgewollten Bestimmung zugeführt, aber es sei nur sehr bedingt statthaft, von einer kulinarischen Offenbarung zu sprechen.
Bei Schmugglerjagd traten Zöllner gegen Schmuggler an. Als Schmuggler mußte man kleine schwarze Scheiben in die hohlen Figuren stopfen und versuchen, sie an den Zöllnern vorbei auf die Ziellinie zu manövrieren. Wenn die Zöllner eine Figur kontrollierten, die nichts schmuggelte, hatte man als Schmuggler gut lachen, aber man mußte auch darauf achten, daß die Schmuggelware nicht rausrutschte beim Ziehen.
Und durfte man nun diagonal oder nicht? Die Regeln standen innen im Deckel, aber wo war der jetzt wieder abgeblieben?
Wiebke schob die Figuren, in denen sie was schmuggelte, so langsam übers Brett, daß man gleich Bescheid wußte.
Ziemlicher Quark waren die ungarischen Märchen. Da metzelten ununterbrochen todesmutige Ritter Drachen ab, um zartbesaitete Königstöchter zu befreien,
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