Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
war schon lange rum, und der Zug hätte längst weiterfahren müssen. Um den Schaffner nach dem Grund für die Verzögerung zu fragen, lief ich bis in den letzten Waggon des menschenleeren Zugs und dann nach vorne, bis in den ersten Waggon, aber es gab keinen Schaffner.
Ruhig Blut, sagte ich mir, kehrte zu meinem Sitzplatz zurück und las das nächste Kapitel. Über Bobby Moore. Der war schon zweimal unrasiert vor der englischen Königin erschienen, um aus deren Händen einen Siegespokal zu empfangen. Das sei sein Aberglaube, hatte er gesagt: Vor entscheidenden Kämpfen rasiere er sich nie ...
Inzwischen stand der Zug seit über einer Stunde reglos rum. Ob ich nicht doch mal aussteigen sollte, um mich bei irgendwem danach zu erkundigen, was da im Gange war? Aber wenn der Zug dann abfuhr, mit meinem Gepäck und ohne mich? Papa hätte mir den Kopf abgerissen.
Nachdenken und Bahnfahren. Oder Ausharren.
Als der Zug anderthalb Stunden lang stillgestanden hatte, wagte ich es doch. Bahnmenschen waren keine zu finden, und ich rief wieder in Meppen an und erfuhr von Papa, daß mir in Norden Kokolores erzählt worden sei: In Esens habe dieser Zug nämlich geschlagene zwei Stunden Aufenthalt!
Also wieder rein und noch ’ne halbe Stunde warten, und als die verstrichen war, ging’s endlich weiter.
In Jever kam ich mit insgesamt vier Stunden Verspätung an. Am Bahnhof holte Opa mich ab, mit dem Fahrrad. Meinen Koffer klemmte er auf dem Gepäckträger fest.
»Irrungen, Wirrungen«, sagte Opa, und er wollte alles über den Unfall wissen. Darüber werde morgen oder spätestens übermorgen sicherlich was in der Zeitung stehen.
Das wäre mir nur recht, dachte ich, denn dann hätten Oma und Opa es schwarz auf weiß, daß ich mich nicht aus Idiotie verspätet hatte.
In der Veranda standen noch viele von Opas Geburtstagsgeschenken auf dem Schreibtisch. Topfblumen und Alkoholika. Beim Gurkenschnibbeln und Toasten berichtete Oma vom Vettern- und Kusinentreffen in Rastede, wo zwar leider etwas viel Klarer gekreist sei, aber sie und Opa hätten zusammen vorgesungen und seien fast wie Stars gefeiert worden. »Da siehst du mal, was du für flotte Großeltern hast! So bejahrt und noch so rege!«
Papa rief an, nur um sicher zu sein, daß ich jetzt unversehrt am Ziel meiner Reise angelangt sei.
Oma hatte mir eines der Gästebetten im Keller frisch bezogen, und ich wäre auch gleich eingeschlafen, aber daran hinderte mich eine Mücke. Sobald deren Simmen etwas lauter erklang und dann verstummte, konnte man sicher sein, daß sie sich irgendwo auf einen draufgesetzt hatte, um Blut zu saugen. Ich machte das Licht an, um das Biest zu erledigen, und dann sah ich, daß an den Wänden mindestens dreißig Mücken saßen und nur darauf warteten, daß ich mich schlafen legte. Statt die Viecher alle totzuschlagen, wofür ich ein halbes Jahr gebraucht hätte, wickelte ich mich in die Bettdecke ein, so daß nur meine Nasenspitze noch rauskuckte, aber am nächsten Morgen hatte ich trotzdem Mückenstiche an den Armen, an den Unterschenkeln und am Hintern, sogar mitten in der Ritze.
Nach dem Frühstück ging ich in den Schloßgarten, wo ich eine Pfauenfeder aufgabelte, tief im Gesträuch, und zum Elf-Uhr-Tee kam ich zurück in die Mühlenstraße. Den Tee servierte Oma in der Veranda, mit ein paar Keksen, die viel delikater waren als die in Meppen. Dazu rief Oma auch Gustav herbei, der in seinem Zimmer Gesetzestexte am Pauken war, fürs Jura-Studium.
Im Keller bewahrte Gustavs seine Zeitschriftensammlungen auf, jahrgangsweise gebündelt, mit Paketschnur. Bravo und Spiegel . Die Hefte vom Jahrgang ’76 lagen noch lose rum. Eins mit einer Titelgeschichte über Bordelle: »Sex im Salon«. Bei den Fotos dazu ging’s zur Sache: Auf einem sah man, wie zwei Nutten einem nackten Mann den Rücken und den Pöter massierten, und auf ’nem anderen, wie eine Nutte einem Typen, der in der Unterhose dalag, zwischen die Beine faßte. Und es war nicht zu übersehen, daß dieser erwartungsvoll grienende Typ einen Ständer hatte.
Dreist – in ein Bordell zu gehen und sich da auch noch fotografieren zu lassen, mit einer Frauenhand auf dem Familiensilber!
Den Spiegel hatte Gustav schon mit zwölf gelesen und gesammelt, und vielleicht sollte auch ich mal damit anfangen, mich mit Politik zu beschäftigen und vorm Fernseher Bundestagsdebatten zu verfolgen, so wie Gustav, der dabei Pfeife zu rauchen pflegte: Exclusiv Cavendish Aromatic, »Prädikat zungenmild«. Neben
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