Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
carnation hidden by the packages ...
Carnation: Gartennelke. Aha. In meiner nächsten Englischarbeit würde eine Gartennelke vorkommen, zur Verblüffung der Gewonk.
Mein Konfirmationsanzug paßte mir leider nicht mehr, und Mama zog mit Volker und mir los, Kledage kaufen, damit wir bei der Feier von Oma und Opa Jevers Goldener Hochzeit einigermaßen vorzeigbar wären.
Die ersten beiden Hosen, in die ich mich hineinzwängte, waren viel zu eng, und die dritte hätte auch als Fallschirm durchgehen können. Mama schleppte ständig neue Anzughosen an und riß immer wieder, nach alter Gewohnheit, den Umkleidekabinenvorhang von außen auf, ohne sich vorher nach meinem aktuellen Bekleidungszustand zu erkundigen.
»Probier mal diese beiden hier!«
»Vorhang zu!«
»Stell dich nicht so an! Dir kuckt hier schon keiner was weg! Und beeil dich mal ’n bißchen! Volker ist längst mit allem fertig, und ich hab noch was anderes zu tun!«
Nach dem Mittagessen wählte Papa einen seiner Schlipse für mich aus. Den Knoten verfertigte er im Sitzen, auf seiner Seite vom Ehebett, mit der Schlinge über dem linken Knie, und dann kriegte ich das blaugraue Ungetüm umgewürgt.
»Schick siehst du aus«, sagte Renate.
Ja, natürlich. Schick wie Scheiße im Mercedes.
Für die Fahrt nahm ich ein Buch über Heinrich von Kleist mit. Den hätte es einmal fast sogar nach Koblenz verschlagen:
Schwankend zwischen Genie und Wahnsinn, wie getrieben von Furien, fand er nirgends Ruhe. Er vertraute Wieland beim Abschied einen Plan an, er werde sich in Koblenz bei einem Tischlermeister verdingen. Er wollte sein Genie ersticken, um der Versuchung zum Selbstmord zu entgehen.
Da fragte man sich unwillkürlich, ob Kleist als Handwerksgeselle in Koblenz nicht erst recht auf Selbstmordgedanken gekommen wäre. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts hatten die Tischler am Deutschen Eck wahrscheinlich kein besonders süßes Leben gehabt, so ganz ohne Radio und Fernsehen und alles. Von morgens bis abends hobeln und nachts in einen verlausten Alkoven kriechen, und für die Fahrt in die nächste größere Stadt gab’s nur lahme, unbequeme Pferdekutschen. Interessant wäre es allenfalls noch gewesen, sich das damalige Wambachtal anzusehen. Oder die Horchheimer Höhe: Wie es da wohl ausgesehen hatte, bevor die Planierraupen angerückt waren? Aber Kleist hätte ja gar keine Vergleiche anstellen können, sondern nur den seinerzeitigen Zustand vor Augen gehabt. Und was hätte der arme Kerl danach in Koblenz machen sollen, am Feierabend? Sich besaufen? Steine in die Mosel schmeißen? Oder bei Petroleumlicht in einer karg möblierten Bude sitzen und sich einen runterholen?
Aus dem Buch ging nicht klar hervor, ob Kleist jemals mit einer Frau geschlafen hatte. Seine abgebildeten Freundinnen sahen nicht gerade verlockend aus. Was für pomadige Visagen die hatten! Und diese vogeligen langen Hälse und die belemmerten Frisuren! Wer hätte denn mit solchen Bohnenstangen ins Bett gehen wollen? Und bei welcher Gelegenheit? Die Alleinstehenden hatten damals ja nicht einfach so über Nacht Besuch empfangen dürfen. Das war doch noch in der Ära Adenauer tabu gewesen.
Heinrich von Kleist mußte es echt schwer gehabt haben im Leben, wenn er sich von einem Dasein als Tischler in Koblenz eine Erlösung versprochen hatte.
In Oma und Opa Jevers Wohnung gab es fast kein Durchkommen für uns. Die platzte schier aus allen Nähten vor lauter Gratulanten. Mama mußte sich mit ihrem Blumenstrauß durch ein Heer fremder Menschen kämpfen, bis sie Oma endlich umhalsen und beglückwünschen konnte, und überall waberte Zigarrenqualm. Von der Veranda aus winkte uns Tante Dagmar zu, über die Köpfe der besseren jeverschen Gesellschaft hinweg.
»Die Nomenklatura scheint nun nahezu vollständig versammelt zu sein«, sagte Gustav, der auf Opas Stammsessel im Wohnzimmer thronte, mit allem Peifenzubehör in Griffnähe.
»Juhu, ihr Lieben!« hörte ich Tante Therese rufen, und von hinten stieß mich Volker an: »Geh doch mal weiter, du Blindschleiche! Oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
In der Veranda stand ein Teller mit Zigarren auf dem Tisch. Ich griff mir eine heraus und schnupperte daran. Die roch nicht schlecht, und ich steckte sie mir für später in die Innentasche meines Jacketts.
In weiter Entfernung bewegte sich Opa durch die Menge. Vor mir selbst materialisierte sich auf einmal Onkel Immo inklusive Töchtern, und von hinten rechts machte sich die britische Verwandtschaft
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