Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Kulturelles Wort, wo auch Tante Dagmar ihren Dienst schob.
»Ist doch drollig«, sagte Mama, »daß ich auf meine alten Tage nochmal einen interessanten Arbeitsplatz mit Aussicht auf den Maschsee hab, statt immer nur dreckige Wäsche zu waschen und Kartoffeln zu kochen! Und du glaubst ja gar nicht, wie viele alte Bekannte mir schon über den Weg gelaufen sind in der kurzen Zeit! Und wie die alle aussehen inzwischen! Rein zum Piepen! Völlig aus dem Leim gegangen zum Teil und manche auch mit Pläte und Säufernase ... aber nun stör mich hier mal nicht länger, denn ich hab noch ’ne ganze Menge zu tippen ...«
Mamas Chefin war für zeitgenössische Literatur und Lyrik zuständig und für Autorenlesungen.
In der Kantine setzte sich mittags eine blondgelockte Frau zu uns an den Tisch, und Tante Dagmar machte die Honneurs: »Darf ich vorstellen – meine Schwester Ingeborg Schlosser, geborene Lüttjes, ihr Sohn und mein Neffe Martin Schlosser ... Frau Isolde Weber aus dem Ressort für Religion und Gesellschaft ...«
»Ach, ist das hier so ’ne Art Familienstammtisch?« fragte die Frau.
»Iwo«, sagte Tante Dagmar, »wir sind aus rein beruflichen Gründen zusammengetroffen ...«
Während wir unseren Nachtisch löffelten, rauchte diese Frau Weber John Player Special und trank dazu »einen Dowi«, also einen doppelten Whiskey.
Tante Dagmar mußte dann irgendwelche O-Töne schneiden. Bevor ich in die Stadt ging, durfte ich mir im Kulturellen Wort ein paar Bücher aussuchen. Ich wählte »Die große Versuchung« von Vance Packard aus, »Jugend im Zeitbruch« von Klaus Mehnert« und »Euro-Kommunismus« von Wolfgang Leonhard.
»Und sieh dir mal die neue Kröpcke-Uhr an!« rief Tante Dagmar mir nach.
Der Kröpcke war ein Platz in der Nähe vom Hauptbahnhof, und da stand seit neuestem eine auf altertümlich getrimmte Uhr in der Gegend herum.
In der Buchhandlung Schmorl & von Seefeld kaufte ich mir einen rororo-aktuell-Band: Freimut Duve im Gespräch mit Erhard Eppler, einem schwäbischen Sozialdemokraten, der 1974 als Entwicklungshilfeminister zurückgetreten war, wegen Differenzen mit Helmut Schmidt.
Was Eppler so zu sagen hatte, fand ich zwar größtenteils einleuchtend, aber es riß mich auch nicht gerade vom Stuhl. Auf eine Frage nach seinen »Tageserfüllungsmöglichkeiten« gab er zur Antwort:
Angst vor Langeweile gibt es bei mir nicht. Im Gegenteil, es gibt manchmal eine Art Zorn darüber, wieviel ich von dem, was ich tun möchte, nicht tun kann. Ob das nun Gartenarbeit ist, das Wandern oder die Bücher, die ich gerne lesen möchte, die Bach-Platten, die ich gerne hören möchte, die Gespräche, die ich führen möchte, oder auch die Aufsätze oder Bücher, die ich gerne schreiben möchte.
Eine ulkige Vorstellung, wie der Eppler vor Zorn explodierte, weil er keine Zeit zum Unkrautjäten fand! Wer hinderte ihn denn daran, sein Amt als baden-württembergischer Landtagsfraktionsführer an den Nagel zu hängen und den Schövel zu schwingen? Oder kreuz und quer durch den Schwarzwald zu stiefeln?
Aus dem Hannoverschen Wochenblatt erfuhr ich, daß in Hannovers langweiliger unterirdischer Fußgängerzone Revierkämpfe tobten, von denen ich bislang noch gar nichts mitbekommen hatte:
Die Passerelle soll endlich sauber werden! Stadtstreichern, Pennern und Rockern, die die hübsche Ladenstraße verschmutzen oder sich dort zusammenrotten, geht es künftig an den Kragen: Mit vier Fernsehkameras (Kosten: 25.000 Mark)!
»Und wer bezahlt’s?« fragte Tante Dagmar.
Dann durfte ich mir Onkel Rudis Anwaltskanzlei in der Bödekerstraße ansehen. Da gab’s einen klotzigen Fernschreiber, Hängeregistraturen und in den Regalen endlos viele Gesetzessammlungen. Wenn man all diese Gesetze auswendig herunterbeten können mußte, um Jurist zu werden, hätte ich es vorgezogen, mich mit den Pennern in der Passerelle zusammenzurotten.
An seinem Schreibtisch studierte Onkel Rudi die Akte über den Fall eines Aufsichtsratsvorsitzenden, der einer maroden Baugesellschaft über die Stadtsparkasse »mala fide Kredite zugeschanzt« habe: »Als sich die Wertlosigkeit des Aktienpakets herausgestellt hat, sind selbstverständlich Schadenersatzforderungen geltend gemacht worden, und das ist nur recht und billig«, sagte Onkel Rudi und schimpfte über das »Unrechtsurteil«, das in dieser Sache ergangen sei. »Aber in der nächsten Instanz wird die Gerechtigkeit obsiegen!«
Er nahm mich auch zu einer Gerichtsverhandlung mit, in der er
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