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Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)

Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)

Titel: Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Henschel
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keiner mitschreiben kann, und fragt andauernd, ob er zu schnell spreche, die Erdkundepaukerin vergibt die Noten so, als ob ihr Gehalt nach der Höhe derselben bemessen werde, die in Bio nimmt mit Vorliebe glitschige, wabbelige Kuhaugen auseinander und verlangt das gleiche von uns (Augapfel der Länge nach aufschneiden, Hornhaut herausschnipseln, durch leichten Druck auf die Seitenwände den inneren Gubbel mit der Linse herausquetschen, anschließend die innere Wand des Auges abkratzen und danach zu Mittag essen) (aber nicht das Auge!).
    Eigentlich wollte ich nichts von der Schule schreiben. Aber da hier sonst ja so viel los ist ...
    Mama fuhr nach Jever und wollte dann mit Oma und Opa weiter nach Pakens zum Begräbnis von Tante Toni. An die konnte ich mich nur schwach erinnern, doch ich wußte noch, daß sie mir schon in meinen frühesten Kindertagen uralt vorgekommen war. Wie eine Märchenhexe, nur ohne deren Bosheit.
    Tante Toni, eine Schwester von Opa Jever, hatte fast ihr gesamtes Leben in Hooksiel verbracht und nie daran gedacht, mal nach Spanien zu jetten und sich ein Heimspiel von Real Madrid anzuschauen, mit Alfredo di Stefano und Ferenc Puskas im Sturm. Oder mit Onkel Bertus im Krabbenkutter von der Nordsee bis zur Côte d’Azur zu schippern und in Cannes den Filmfestspielen beizuwohnen. Oder wenigstens mal in Hamburg ein Konzert der jungen Beatles an der Reeperbahn zu besuchen. Von keiner einzigen dieser Gelegenheiten hatte Tante Toni Gebrauch gemacht, und nun war sie tot.
    »Und keiner hat sich hingesetzt und die mal ihre Lebensgeschichte auf Band sprechen lassen«, sagte Papa abends. Was die alten Leute zu erzählen hätten, das nähmen sie alle mit ins Grab, und ihre Namen seien für die zweite oder dritte Generation danach bloß noch Schall und Rauch. »Genaugenommen müßte mal jemand nach Scheidegg zu Tante Hanna fahren und sich von der berichten lassen, was sie erlebt hat. Solange das noch geht ...«
    Diese Aufgabe hätte ich gern übernommen. Warum nicht? Eine Reise ins Allgäu und ein paar Tage bei Tante Hanna, Oma Schlossers Schwester? Mit meinem Kassettenrekorder im Gepäck? Und auf der Rückfahrt ein Abstecher nach Vallendar?
    Auf so viel Entgegenkommen war Papa nicht gefaßt, und er ranzte mich an: »Dann müßtest du erstmal lernen, wodurch sich bei deinem Rekorder die Aufnahmetaste von der Löschtaste unterscheidet!«
    Aber er versprach, Tante Hanna anzurufen.
    Wenn ich weiter stur nach den Tabellen zur Literaturgeschichte in meinem Nachschlagewerk vorgegangen wäre, hätte ich mich als nächstes mit der Weisheitslehre des chinesischen Philosophen Laotse befassen müssen, aber ich wollte auch mal wieder irgendwas lesen, das weniger als zweitausend Jahre alt war. Aus der Stadtbücherei nahm ich einen Klassiker von Goethe mit, »Die Leiden des jungen Werther«, und damit hatte ich in eine Goldgrube gelangt.
    In diesem Briefroman beschrieb der unglücklich in eine gewisse Lotte verliebte junge Werther, was er durchzumachen hatte. Einmal gab er sich übertriebenen Hoffnungen hin:
    Nein, ich betriege mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fühle, und darin darf ich meinem Herzen trauen, daß sie – o darf ich, kann ich den Himmel in diesen Worten aussprechen? – daß sie mich liebt!
    Da ging es ihm wie mir, als ich mich noch wie blöd auf jeden gemeinsamen Schultag mit Michaela Vogt gefreut hatte, in der irrigen Annahme, daß sie an mir und meinem Schicksal Anteil nehme.
    »Ich werde sie sehen!« ruf’ ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke; »ich werde sie sehen!« Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.
    O Junge, dachte ich, als ich das las, freu dich mal nicht zu früh! Die gute Lotte war nämlich in festen Händen, und der arme, dumme Werther streckte seine Arme umsonst aus, wenn er wieder einmal süß von ihr geträumt hatte.
    Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafes nach ihr tappe und drüber mich ermuntere – ein Strom von Tränen bricht aus meinem gepreßten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen.
    Ganz genau wie ich in der nebelumwölkten Epoche meiner Vernarrtheit in Michaela Vogt. Nur allzu gut bekannt war mir das bedrückende Gefühl des Gefangenseins, denn man konnte sich die Liebe ja nicht einfach aus dem Herzen reißen und danach zur Tagesordnung

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