Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
falschen Raum befand. Ich stratzte abermals zum Schwarzen Brett und stellte fest, daß ich mich in der Zeile vertan hatte: Gemeinschaftskunde war nicht in Bc1, sondern in Bc5, und als ich da angehechelt kam, war ich natürlich der Letzte, und es gab keinen einzigen freien Platz mehr. Um dieses Problem zu lösen, mußte ich aus einem anderen Klassenraum einen Tisch herbeischleppen, und an diesem Tisch saß ich dann ganz allein genau vorm Pult.
Danach fing Englisch an, im selben Raum, bei Frau Coppenrath, und die sagte, daß sie sich als Schülerin nie und nimmer für diesen Kurs entschieden hätte: »Was da auf Sie zukommt, ist ein ungeheuer komplizierter Stoff, das wird eine elende Paukerei ...«
Und in der fünften Stunde Sport bei Grewitz. Ich hatte den Hallenhockeykurs gewählt, und da ging’s aber los! 25 Liegestütze, zwölf Runden in der Turnhalle laufen, Sprints, Konditionstraining und danach eine ganz neue Übung: auf dem Bauch liegend die Füße hinterrücks mit den Händen ergreifen, die Beine hochziehen und den Oberkörper aufrichten. »Da darf nur noch der Bauchnabel die Erde berühren!« zeterte der Grewitz.
Zwanzigmal mußten wir das machen, und von dem idiotischen Hallenhockey kriegte ich Rückenschmerzen, weil man da pausenlos in gekrümmter Haltung herumlaufen mußte.
Es taute. Sobald man das Haus verließ, trat man in pissigen Schneematsch, und an den Fahrradfelgen klebte der Dreck fest.
In Musik ging es um Johann Sebastian Bach. Der hatte im Jahr 1720 von Köthen nach Karlsbad gemußt, und als er wiederkam, war seine Frau gestorben und auch schon begraben. Furchtbar! Und im Leistungskurs Deutsch saßen außer mir und dem Buddrich und einem Hänfling namens Udo Zobel nur lauter Weiber herum.
In Sport rannte ich versehentlich jemanden um und mußte zur Strafe statt nur in einer Mannschaft gleich in zweien mitspielen, direkt nacheinander. Das hatte sich der Grewitz so ausgedacht, und hinterher mußte ich klatschnaßgeschwitzt zur Lateinstunde wetzen, um dem Gebrabbel des alten Dahlke zu lauschen. Diesesmal zog er über die Vietnamskriegsgegner her: »Sie haben doch alle irgendwann mal dieses Bild gesehen, wie der südvietnamesische Polizeichef einen Gefangenen erschießt, mitten auf der Straße, bumm, aber daß dieser Vietnamese vorher selbst mehrere Leute umgelegt hat, nicht wahr, darüber schweigt des Sängers Höflichkeit ...«
Der Buddrich besaß eine LP von Leonard Cohen, und die durfte ich mir ausborgen. »Songs From a Room« – Lieder aus einem Zimmer.
Es war sagenhaft, was dieser Cohen für ein Glück mit den Frauen hatte.
And a pretty woman leaning in her darkened door,
she cried to me, »Hey, why not ask for more?«
Offenbar hatte er manchmal allerdings auch Pech gehabt. Eine gewisse Nancy, die sich 1961 nicht nur in ihn, sondern auch in Freunde von ihm verliebt hatte, war zwar mit allen ins Bett gegangen:
Nancy wore green stockings
and she slept with everyone ...
Aber dann hatte diese Frau sich, wenn ich den Text richtig interpretierte, erschossen. Mir bedeutete die Melodie ja mehr als der Inhalt, und die Melodie war die reine Magie.
We told her she was beautiful,
we told her she was free
but none us would meet her in
the House of Mystery ...
Solche Erfahrungen mußte man sammeln als Erwachsener, und wenn man das nicht aushielt, dann konnte man einpacken und sich selber die Kugel geben.
Um elf Uhr abends zeigte sich, im ersten Programm, wer immer noch das beste deutsche Liedgut erzeugte, nämlich Insterburg & Co. Ach Gott, wie war das doch herrlich, daß diese vier abgefahrenen Typen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auftreten durften! Und was hätte ich darum gegeben, die einmal live erleben zu dürfen! Dafür hätte ich Wiebke an einen persischen Teppichhändler verkauft!
In Geschichte faselte der Lehrer über alles mögliche außer Geschichte, und ich hätte gern mal abgereihert zwischendurch. Staat und Nation im 19. Jahrhundert, das war des Thema, aber dieser Typ brachte es fertig, zwei Stunden lang über irgendwelchen Käse zu reden, der mit dem Unterrichtsstoff absolut nichts zu tun hatte.
Weil ich die Sache mit Bachs Rückkehr nach Köthen und dem Tod von dessen Frau genauer wissen wollte, kaufte ich mir bei Meyer ein Taschenbuch über Bach, aus der Reihe »Heyne Biographien«, doch da stand rein gar nichts über das erschütternde Ereignis drin. Sondern nur:
Wir wissen wenig über Bachs erste Ehe, dürfen aber vermuten, daß sie glücklich verlief. Das
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