Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
repressiven Innerlichkeit nach. Eskapismus, Hausmusik und entfremdete Handarbeit als Ersatz für die freie Entfaltung des Individuums in der klassenlosen Gesellschaft. Keine Mensch hätte so viele Teppiche knüpfen können wie Oma Schlosser, ohne dabei seine unterdrückte Sexualität zu sublimieren. Aber das sagte ich natürlich nicht laut.
Der Nachtisch bestand aus einer sogenannten Hawaii-Gondel mit Pistazieneis und Melbasauce. Das war so ’ne Art Ananasschiffchen, und als der letzte leere Teller zurückging, hatten wir schon drei Stunden lang gefressen, von sieben bis zehne. Darauf folgte Fräulein Kunzes großer Auftritt.
Vernehmt, ihr Versammelten, freudig die Kunde vom Festtag, dem hohen,
im Mond des Oktober im sonnendurchfluteten Herbst dieses Jahres ...
In diesem Stil ging’s dann noch ziemlich lange weiter, und jede Strophe gipfelte in Vergötterungen des Geburtstagskindes:
Cäcilie Schlosser, die rastlos sich Mühende!
Und:
Cäcilie Schlosser, die allezeit Gütige!
Das hatte Fräulein Kunze alles selbst gedichtet, zu Omas Ehren.
Bewunderung zollt ihr die Schar ihrer Enkel für Fleiß und Geschick ihrer tätigen Hände
beim Stricken und Sticken und Flicken und Stopfen. Erleichtert wird dadurch
der Alltag der Kinder, verziert deren Heim mit manch kostbarer Decke.
Auch Teppiche knüpfen versteht sie vorzüglich, die Muster und Farben verraten Geschmack und erfreu’n den Empfänger.
Der fröhlicher Geber ist
Cäcilie Schlosser, die stets unternehmende!
Lobend hervorgehoben wurden auch Omas Geduld und Bescheidenheit, bevor das Gedicht mit den Worten endete:
Cäcilie Schlosser, die stille, gereifte und Ehrfurcht gebietende!
Den tosenden Applaus nahm Fräulein Kunze schweigend entgegen, mit gesenktem Haupt, und dann ging sie zu Oma hin und umarmte sie einmal kurz.
Ob jetzt noch irgendjemand was auf Lager hatte?
Oja: Die Wiesbadener Kusinen brachten Oma ein Blöckflötenständchen dar, zu dritt, und dann setzte Papa das Epidiaskop in Betrieb und projizierte alte Familienfotos an die Wand. Die Urahnen im Lehnstuhl, Onkel Dietrich als Baby im Gummihöschen, eine Schiffsreise nach Norwegen, Oma Schlosser mit ihrer Mutter ...
»Und ich weiß noch«, rief Tante Doro, »1933 haben Gertrud, Richard, Rudi und ich alle gleichzeitig die Masern gehabt ...«
In das Epidiaskop legte Onkel Walter dann auch Fotos von seiner Polenreise. Das Ordensschloß und der Dom in Marienwerder. Das Rathaus hätten die Russen abgerissen: Die Steine seien für den Wiederaufbau Warschaus gebraucht worden.
Das klang ganz vernünftig. Wenn die Deutschen die Stadt Warschau zerstört hatten, dann hatten die Polen das gute Recht besessen, ihre Häuser mit Steinen aus Deutschland wiederaufzubauen.
Nächstes Foto: Kornmarkt 1, das Haus, in dem die Schlossers gewohnt hatten.
»Im Garten steht sogar noch der Baum mit den Winterbirnen, die nie weich geworden sind«, sagte Onkel Walter.
Und die dreistämmige Linde vor dem Pfarrhaus. Im Sommer habe es darin immer von Bienen gesummt.
Die frühere Hermann-Göring-Straße und der frühere Adolf-Hitler-Platz.
Das Fotografieren von Schulen sei in Polen verboten, sagte Onkel Walter, doch er habe heimlich trotzdem Aufnahmen von der Mittelschule und der Hermann-Balk-Schule gemacht. Was mit dem Verbot bezweckt werde, wisse er nicht. »Das muß sich wohl irgendein Miesepriem ausgedacht haben, um die Leute zu kujonieren.«
Das Ordensschloß in Allenstein und die Gnesener Kathedrale.
Gähn.
Ich setzte mich um, mit meinem Glas Wein, und da hörte ich Tante Doro erzählen, von einem Weihnachtsfest in Schirwindt. Gottesdienst im Gemeindehaus: Im Saal habe ein deckenhoher Kanonenofen gestanden und den Raum leidlich erwärmt. Sie sei mit ihren Gedanken schon bei der Bescherung gewesen und habe gar nicht zugehört. »Unvergeßlich ist mir aber der Heimweg. Da hatte es schon stark geschneit, und der Schnee in den Straßengräben war verweht zu glitzernden, bizarren Wällen, und über uns hat sich der Himmel gewölbt mit Abermillionen Sternen, so daß die Nacht vom Schnee und dem Sternengefunkel ganz hell war, also, ich weiß noch, welche Freude und Andacht mich da erfüllt hat ...«
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Onkel Rudi, »aber daß das jetzt polnisch sein soll, sitzt mir immer noch quer.«
Onkel Walter und Tante Mechthild berichteten, wie sie in Stettin beim Geldumtausch von Schwarzhändlern reingelegt worden seien. »Wenn die die Geldscheine zählen, nehmen sie die irgendwie von
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