Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
die überstandenen Qualen holte ich mir ein paar Löffelvoll aus dem Rumtopf, und dann setzte ich mich an den Schreibtisch.
Lieber Michael!
Na? Hast Du wieder einen Crash gebaut?
Das war ein guter Anfang. Der Rest schrieb sich wie von allein.
Auf Mamas opulenten Leserbrief hatte Esther Knorr-Anders mit einem Kärtchen reagiert:
Liebe Frau Ingeborg Schlosser, ganz herzlichen Dank für Ihren Brief. Sobald ich in Ostfriesland bin, werde ich Ossi-Mischung trinken.
Unterschrift. Ende.
Im Kofferraum verstaute Papa vor der Abreise nach Dortmund ein Monstrum namens Epidiaskop, mit dem er irgendwelche alten Familienfotos vorführen wollte. Mama, Volker und Wiebke waren schon losgefahren, um halb zehn, im Polo, und Papa und ich zockelten um elf Uhr hintennach.
Zum Lesen hatte ich mir ein Buch von Herbert Marcuse mitgenommen.
Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs, der seine in einem Aggressionskrieg verdienten Orden zur Schau stellt; obszön ist nicht das Ritual der Hippies, sondern die Beteuerung eines hohen kirchlichen Würdenträgers, daß der Krieg um des Friedens willen nötig sei.
Das hätte Herbert Marcuse mal den vierhundert Besucherinnen bei den Glaubenskundgebungen auf der Waldbühne Ahmsen erzählen sollen.
Beim Abstreifen der Zigarettenasche zielte Papa an dem überfüllten Aschenbecher oft vorbei, und ich erklärte mich dazu bereit, den Aschenbecher an der nächsten Raststätte zu entleeren, aber Papa fuhr lieber weiter.
Das Hotel, in dem die Feier stieg, mußten wir so lange suchen, daß ich schon hoffte, wir würden es niemals finden, doch nach einer Stunde Kurverei durch den Dortmunder Stadtverkehr gelangten wir ans Ziel.
Auf dem Parkplatz kam eine Frau mit Schleierhütchen und Teddyfelljacke an, gab mir die Hand und sagte: »Guten Tag!«
Daß das Renate war, merkte ich erst, als sie sich darüber kaputtlachte, daß ich sie nicht erkannt hatte.
Im Eingang des Hotels fuchtelte Mama herum. »Ich dacht’ schon, ihr kämt überhaupt nicht mehr!«
Unter normalen Umständen hätte ich mir ein Zimmer mit Volker teilen müssen, aber weil es keine Doppelzimmer mehr gegeben hatte, durfte ich ein Einzelzimmer beziehen, die Tür hinter mir schließen und mich aufs Bett werfen.
Diesmal würde ich nur wenig Wein trinken und mich bereits am frühen Abend zurückziehen. Das schwor ich mir.
In dem Zimmer gab es einen Fernseher, ein Radio und eine Minibar.
Ich ging duschen, heiß und lang, bevor ich mich in Schale warf. Beim Schlipsknotenbinden mußte Renate mir helfen.
Und dann zur Kaffeetafel mit Kuchen in einem reservierten Saal in einem nahegelegenen Restaurant, mit Jung und Alt ...
»Na, wie geht’s dir, alte Schwippschwägerin?« sagte Tante Jutta zu Mama.
Auf den Tischen standen Blumen, und die Familie Wellmann kam wie immer zu spät.
Bei den Gruppenfotos hielt ich mich im Hintergrund und auch bei dem Gelatsche um einen See. Die Bankette, das Fotografiertwerden und das Gruppengelatsche gingen wahrscheinlich auch Politikern bei Gipfelkonferenzen auf den Senkel.
Vor dem Abendessen im »Raum Venus« konnte ich noch einmal meine Glieder ausstrecken, in meinem Zimmer, und am liebsten wäre ich überhaupt nicht mehr runtergegangen. Sollten die doch feiern, bis sie schwarz wurden!
Jemand pochte an meine Tür. »Martin? Bist du fertig angezogen?«
Renate.
»Wir gehen jetzt nach unten!«
Bloß nicht wieder bechern bis zum Delirium, sagte ich mir, als ich die Schuhe anzog.
Auf in den Kampf!
Papa hatte das Epidiaskop aus dem Auto geholt.
»Was schleppst ’n du da an?« rief Onkel Rudi. »Sieht ja aus wie ’n Granatwerfer!«
Man durfte sich nicht einfach irgendwo hinsetzen, sondern man mußte den eigenen Namen auf den geknifften Tischkärtchen suchen. Mich hatte man zwischen Robert Wellmann und Onkel Edgar plaziert und uns gegenüber eine Meute giggelnder Kusinen.
Weil es nichts Gescheiteres zu tun gab, las ich mir schon mal die Speisekarte durch.
Apéritif-Wagen
Luxuskrabben-Cocktail »Cointreau« mit Toast und Butter
1973er Thörnicher Ritsch Riesling-Kabinett aus dem Lesegut Maringer
Oxtail clair mit Portweinschaum und Chesterstange
1975er Gau-Bickelheimer Kurfürstenstück
Qualitätswein mit Prädikat (Spätlese)
Weingut Jacob Hütwohl
Kalbsnüßchen »Gärtnerin Art« in Zitronensahne,
verschiedene Gemüse und Butterkartoffeln ...
»Kalbsnüßchen«, was für ein seltsames, irgendwie unanständiges
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