Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
in diesem Stadium des Countdowns kam alles darauf an, daß ich die Geleise überquert hatte, bevor der Schrankenwärter seines Amtes waltete, denn die Bahnsteige konnte man nur von der anderen Seite der Geleise aus betreten.
Wäre ich ein Minütchen früher aufgebrochen, hätte ich es eventuell noch geschafft, aber nun war nichts mehr zu machen. Die Schranken hatten sich bereits geschlossen. Aber wo ich doch nun schon mal hier war? Ich ließ mein Rad im Schutz einer Hecke am Bahndamm stehen, hechtete über den Zaun und hoppelte quer über die Geleise, dem Bahnsteig entgegen, auf dem zur gleichen Zeit der Zug einrollte. Einen Moment lang sah ich einen häßlichen Zusammenstoß zwischen mir und der Lokomotive voraus. Es war buchstäblich höchste Eisenbahn. Den rettenden Bahnsteig erreichte ich keine Sekunde zu früh, und da standen sie, in einem Pulk, die Lateinkursbesucher. Von meinem kleinen Wettlauf mit der Lok hatte niemand was gemerkt.
Okay. Ich hatte es geschafft. Doch um welchen Preis? Mir schlug das Herz bis zum Hals, und ich war weder gewaschen noch gezahnputzt noch gekämmt. Im Zug ging ich erst einmal schiffen, und dann suchte ich mir einen Sitzplatz. Weil ich in meiner ramponierten Verfassung auf Gesellschaft nicht erpicht war, ließ ich mich in einem leeren Sechserabteil nieder, doch ich blieb nicht lange solo: Heiko Meier, Stefan Rüßkamp und noch einige andere alte Lateiner drängten herein und schwemmten auch Maren Hohoff mit herbei, und es ergab sich, daß sie nach allerlei Verteilungskämpfen den Fenstersitzplatz einnahm, der meinem eigenen genau gegenüberlag.
Günstiger hätte es unter normalen Bedingungen nicht kommen können. Maren Hohoff und ich, Knie an Knie in einem Zugabteil vereint?
I’d love to turn you on ...
Was die Sache verkomplizierte, war der Schweiß, der mir aus allen Schädelhautporen sprudelte. Auch weiter südlich schwitzte ich wie eine Wildsau. Um mich abzukühlen, mußte ich nach dem Parka auch den Pullover ausziehen. Dazu gab es keine Alternative, auch wenn sich auf dem Hemd unübersehbar die Spuren der Anstrengung zeigten, die es mich gekostetet hatte, binnen acht Minuten die Distanz zwischen Bettkante und Bahnsteig zu überbrücken, und ich bot, soweit ich das selbst beurteilen konnte, nicht gerade einen delikaten Anblick.
Maren Hohoff redete kein einziges Wort mit mir.
Das Römisch-Germanische Museum wartete mit einer Unmenge antiker Pötte, Büsten, Säulen und Grabsteinplatten auf. Wenn die Weltgeschichte immer so weiterging, würde es auf der Erde irgendwann nur noch Museen voller Gebrauchs- und Kultgegenstände aus vergangenen Epochen geben und dazwischen nicht mehr viel Platz für die lebenden Menschen.
»Laß uns verduften, ey«, nuschelte Heiko Meier mir zu und zog mich am Ärmel zum Ausgang. »Diese Scheiße hier, die kannste doch vergessen! In Köln gibt’s viel interessantere Ecken ...«
Wir waren dann schon eine ganze Weile durch die Gassen geirrt, als ich endlich begriff, daß Heiko Meier nach einem Kino suchte, in dem Sexfilme liefen. »Halt so Schwedenfilme eben«, sagte er, doch wir entdeckten nirgendwo eine Lichtspielstätte dieser besonderen Art.
Nach der Schülerzeitungsredaktionssitzung am Samstagabend lotste ich Angela und Udo mit drei Pullen Bier im Gepäck, für jeden eine, in das Klassenzimmer, in dem ein Fernseher stand. Da kuckten wir »Entscheidung in der Sierra«. Humphrey Bogart auf der Flucht vor der Polizei. Im Showdown wurde er von einem Scharfschützen durch einen Schuß in den Rücken umgelegt.
An Humphrey Bogart konnte Angela nichts finden. Der sei »schauspielerisch auf dem Ego-Trip«.
Und mit so einer Tussi wollte ich nach Florenz fahren?
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg kamen die Grünen knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Tante Dagmar machte ihrer Freude darüber in einem Telefongespräch Luft und berichtete auch, daß es mit Tante Thereses Gesundheit stetig aufwärtsgehe.
Was aber war denn nun mit dem Täter? Gab’s in England nicht sogar noch die Todesstrafe?
»Du gehörst wohl auch zu denen, die sich mehr Sorgen um die Täter machen als um die Opfer!« schnauzte Tante Dagmar mich an, und ich hatte nichts dagegen, den Telefonhörer in diesem Stadium des Meinungsaustauschs von Papa aus der Hand gewunden zu bekommen.
Von Mama erfuhren wir, daß Tante Therese aus dem Krankenhaus entlassen worden sei und daß ihre Wunden leider immer noch eiterten.
Der Philosoph Erich Fromm war gestorben, und ich
Weitere Kostenlose Bücher