Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
der Tür einen Ersatzschlüssel hängen, an ’ner Strippe, so daß ich ihn durch den Briefschlitz rausziehen kann …« Der Mensch an sich sei aber weder gut noch böse, sondern von seiner Natur abhängig.
»Und wenn die Natur gesellschaftlich deformiert ist?«
»Ich schätze eher, daß die Natur die Gesellschaft deformiert. Vielleicht gibt es ja sogar ’n ganz natürlichen Faschismus. Der Mensch will herrschen und beherrscht werden!«
Dann war ich die Ausnahme von der Regel.
Um mich duschen und um neun Uhr ausgeruht bei Julia sein zu können, mußte ich um sieben aufstehen. Magnus war schon gegangen.
Nie wieder Rosenthaler Kadarka! Selbst in meinem ausgegurgelten Zahnputzwasser suppte noch was Rotes davon rum.
Ich stellte den Kassettenrekorder an, der in der Küche stand. Was hörte Magnus wohl so für Musik?
When I think of all the things I’ve done
and I know that it’s only just begun
Those smiling faces, you know I just can’t forget ’em
but I love you …
Ich hätte eher auf Heavy Metal getippt.
When I think of all the things I’ve seen
and I know that it’s only the beginning …
Dieser Song ging mir überhaupt nicht mehr aus dem Kopf; auch auf der Straße nicht und in der U-Bahn nicht.
Just for a little while
oh baby, just to see you smile …
Bis Langenhorn, wo Julia wohnte, war’s ein ordentliches Stück hin.
Vier Mohnbrötchen, zwei Hörnchen und zwei Nußecken besorgen, stürmisch begrüßt werden, sich gegenseitig kleine Happen in den Mund schieben und irgendwann in eine innige Umarmung sinken oder gleiten …
Von diesem Szenario wich die Wirklichkeit in den entscheidenden Punkten ab. Die Begrüßung – in Gegenwart von Julias Mutter – fiel recht förmlich aus, und in Julias Zimmer saßen wir einander dann im Schneidersitz gegenüber, an den Längsseiten eines ebenerdig abgestellten Tabletts mit Pünktchenmuster. Zu trinken gab’s grünen Tee und als Aufstrich steinharten Honig, selbstgemachtes Pflaumenmus und eine dubiose reformhausartige Rübenpaste.
Sie liebe es zu frühstücken, sagte Julia. Von ihr aus könne sich das jedesmal über Stunden hinziehen, so wie bei den Franzosen oder überhaupt bei den mediterranen Völkern. Die hätten ja sowieso ’ne ganz andere Eßkultur als wir. »Das hängt auch mit deren anderem Zeitgefühl zusammen und daß die oft noch in so echten Großfamilienverbänden zusammenwohnen. Für die ist jede Mahlzeit ’n richtiges Fest …«
Hätte ich mich an dieser Franzosenverhimmelung etwa beteiligen sollen? Um mich einzuschmeicheln? Das wäre unter meiner Würde gewesen. Außerdem wären mir gar keine Argumente eingefallen, die für langwierig schlemmende Großfamilien gesprochen hätten. Ich war bereits von einem Brötchen und einer Nußecke wie genudelt und wollte rauchen.
Weitere Themen, die Julia anschnitt: Kinderfeindlichkeit, Abtreibung, Wiedergeburt, Buddhismus, Rastafari, Reggae, Jamaika, Urlaubsziele, Berufswahl und Abitur. Sie habe »total viel zu tun so für die Schule und so. Is’ aber auch irgendwie okay so. Find ich so. Und du? Was machst du hier in Hamburg?«
»Ach, ’n paar Leute besuchen … und in Buchläden stöbern …«
Ihr liebstes Buch, sagte Julia, sei »Die Möwe Jonathan«. »Aber ich komm echt nich’ mehr so viel zum Lesen wie noch in der Mittelstufe …«
Wenn man Casanovas Eroberungstechnik als Maßstab nahm, dann hatte ich auf ganzer Linie versagt, doch für meine eigenen Verhältnisse war der Ertrag der Audienz bei Julia nicht unbeträchtlich: Wir hatten unsere bilateralen Beziehungen erneuert und wollten »in Verbindung bleiben«, brieflich, bis zum nächsten Tête-à-Tête.
Ich holte in der Kellinghusenstraße meine Reisetasche ab und fuhr zur Grindelallee, wo es einen Zweitausendeinsladen gab. Mein Budget reichte noch für den großen Comicband »Breakdowns« von Art Spiegelman und den Wälzer »Geschichte und Eigensinn« von Oskar Negt und Alexander Kluge.
Geld hätte man haben müssen!
In Stillhorn wandte ich Hermanns Methode an, die Autofahrer beim Tanken anzubaggern. Lästig, aber wirkungsvoll. Zu meiden waren BMW -Fahrer, alleinreisende Omis und kinderreiche Familien, erst recht, wenn an der Karre einer von diesen »Ein Herz für Kinder«-Aufklebern pappte. Die gingen auf eine Kampagne der Bild -Zeitung zurück. Ein schlechtes Zeichen waren auch die humorigen Aufkleber »Steinzeit? Nein danke«, »Bis daß der TÜV uns scheidet« und »Nicht hupen! Fahrer träumt vom FC Bayern« sowie der
Weitere Kostenlose Bücher