Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
Töchtern unten beim Abendbrot saß. Er machte keine langen Umstände, sondern holte aus den Tiefen seiner prunkvollen Räumlichkeiten ein Mietvertragsformular herbei, und bereits eine halbe Stunde darauf lag ich als glücksverwöhnter Erfolgsmensch in Heikes Armen.
An meinem zweiten Arbeitstag nahm Frau Perlacher mich in den Gebäudeflügel auf der anderen Treppenhausseite mit und entriegelte ein Kabuff, in dem ein technisches Ungetüm aus den Anfängen des Industriezeitalters stand: eine Adressiermaschine, kurz »Adrema«. Damit sollte ich die standesamtlicherseits mitgeteilten Adressen von Leuten, die soeben ein Kind in die Welt gesetzt hatten, in rechteckige Bleche stanzen. Diese Leute kriegten von der Arbeiterwohlfahrt Rundschreiben mit dem Titel »Briefe an junge Eltern« zugeschickt. Das ging gleich nach der Geburt los und setzte sich bis zur Volljährigkeit der Kinder fort. Mit Hilfe der Bleche ließen sich die Sendungen automatisch adressieren, und bei Adreßänderungen mußten die betreffenden Bleche umgestanzt werden.
Eine Arbeit für Blöde, die aber den nicht zu unterschätzenden Pluspunkt aufwies, daß einem keiner dabei zusah. In dem Kabuff saß ich wie in Abrahams Schoß; völlig ungestört und fernab vom Bürogetümmel. Ich konnte rauchen, Däumchen drehen und aus dem Fenster kucken. Bei akutem Bedarf hätte ich mir sogar einen runterholen können, was ich jedoch tunlichst unterließ.
Schade nur, daß ich nichts anderes zu lesen hatte als die »Briefe an junge Eltern«. Mein Wissendrang erstreckte sich nun mal nicht auf Säuglingspflege, Wochenbettgymnastik und Schulpsychologie.
Am nächsten Vormittag ruhte die Arbeit, weil ich zum Einwohnermeldeamt mußte. Meine Bielefelder Niederlassung meldete ich als zweiten Wohnsitz an, weil der Bahnverkehr zwischen dem ersten und dem zweiten Wohnsitz umsonst war. Als Ticket reichte dann der Zivildienstausweis.
Unangemessen fand ich die Frage nach der Religionszugehörigkeit. Was ging denn mein Glaube die Meldebehörde an?
Der Amtsesel, dem ich meine Einwände vortrug, stellte mir für den Fall meiner Verweigerung dieser Angabe einen Bußgeldbescheid in Aussicht, und da gab ich nach. Wenn auch mit Murren.
Nach der Anmeldung und der Eröffnung eines Sparkassenkontos war ich ein vollgültiger und geachteter Bürger der Stadt Bielefeld. Naja, geachtet vielleicht nicht, aber respektiert. Und wenn nicht respektiert, so doch geduldet.
In der Jöllenbecker Straße gab es ein Programmkino, in dem ein Film von Werner Herzog lief: »Jeder für sich und Gott gegen alle«, über Kaspar Hauser, diesen erbarmungswürdigen Findling, der von klein auf in irgendeiner Dunkelkammer vegetiert hatte, ohne viel menschliche Ansprache. Seine weiteren Lebensstationen: 1828 in Nürnberg ausgesetzt, von Geistlichen und Medizinern gezwiebelt, von Schaulustigen heimgesucht und 1833 ermordet.
Heike und ich waren schwerst beeindruckt. Auch im rororo-Filmlexikon wurde der Film gelobt:
Dabei erscheint dieser unkomplizierte, in seinen Äußerungen sehr spontane Kaspar bald als der einzige »normale« Mensch in einer bürgerlichen Welt von Deformierten, die ihrerseits bei ihm ständig nach einer Deformation suchen.
Außerdem stand in dem Lexikon, daß Herzog seine ersten Kurzfilme als Akkordarbeiter in der Stahlindustrie finanziert habe. Alle Achtung.
Weil ich noch keine Monatskarte mein eigen nannte, aber auch nicht dauernd laufen wollte, fuhr ich einmal schwarz und bekam es prompt mit zwei Kontrolleuren zu tun. Sie kaprizierten sich zuerst auf die Fahrgäste weiter vorne im Bus, so daß ich hoffte, an der nächsten Haltestelle entfleuchen zu können. Doch da hatten sie mich schon auf dem Kieker: »Junger Mann, bitte Ihre Fahrkarte, bevor Sie aussteigen!«
»Ich bin aber ziemlich in Eile …«
»Trotzdem.«
Vierzig Mark im Arsch.
Kurz vor der Fahrt nach Meppen reichte mein Geld gerade noch für Tabak, Blättchen und die neue konkret . Mit den bundesdeutschen Kritikern der polnischen Militärregierung fuhr Hermann L. Gremliza Schlitten:
Genug von Strauß, Albrecht, Kohl, Blüm, Ratzinger und den anderen moralischen Nullnummern, die sich bekanntlich schon für die Gefolterten von Santiago und Ankara die Hacken schiefdemonstriert haben.
Das glaubte ich allerdings auch: Wenn Polen kapitalistisch gewesen wäre, hätte sich keiner der Genannten für die Rechte der polnischen Arbeiter stark gemacht.
Mein Bundeswehrtagebuch war da. Ein bißchen dünn, aber ordentlich geheftet, und ich
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