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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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Ich musste auf eine günstige Gelegenheit warten. Ich musste nachdenken. Ihn hinhalten. Er kam einen Schritt auf mich zu. Zermatschte eine Taube.
    Ich hob die Arme.
    »Umdrehen!«, keuchte er.
    Mit dem Gesicht stand ich an der Holzwand. Neben meinem Fuß der zuckende Brei. Um mich flatterte und staubte es. Ich hustete und kippte im Reflex nach vorne. Da drückte er mir das Messer in die rechte Seite. Viel zu tief. Ich spürte, wie es eindrang und wunderte mich. Wie leicht es in meinen Körper glitt, als hätte der keine Grenzen. Ich spürte etwas Warmes über meine Taille rinnen. Aber keinen Schmerz. Gar keinen Schmerz mehr. Eher Verwunderung. Dass es so leicht ging. Und so schnell. Auch die Rippen waren scheinbar wieder heil. War das mein Ende? Würde ich nun sterben, weil ich nichts mehr spürte? Befand ich mich in diesem Stadium kurz vor dem Tod, in dem das Schmerzempfinden
ausgeschaltet ist? Würde mich jetzt das schöne, helle Licht überfluten, und wo war der Tunnel, an dessen Ende meine Oma mich erwartete?
    »Blöde Schlampe«, zischte er. »Dein Hund ist weg. Aber dich hab ich!«
    In meinem Kopf schlug es geradezu Funken vor Anstrengung. Zu behaupten, ich hätte keine Ahnung, was er wollte, würde mir nichts helfen. Ich musste mich in ihn hineinversetzen. Das war meine einzige Chance.
    »Es kann schon sein, dass ich das habe, was Sie suchen. Aber nicht mit Absicht. Es ist ein Zufall.«
    »Du bist die Freundin von dem. Das ist kein Zufall. Also hast du es auch. Außerdem hat er mir das selber gesagt, dass seine Freundin es gefilmt hat, wie ich den Habicht rausgezogen hab. Ich weiß, dass das stimmt, weil dein Sauköter den Fangkorb gefunden hat. Ich lass mich nicht verarschen. Nicht von ihm, nicht von dir. Also, wo ist das Handy?«
    Fieberhaft versuchte ich diese Informationen zu verarbeiten. Auf Klaus Hases Handy musste sich eine Filmsequenz befinden, die ihm aus welchen Gründen auch immer gefährlich werden konnte. Aber wieso wollte er nur das Handy? Der Film konnte längst auf einem Laptop sein, auf einem USB-Stick, bei youtube. Das musste ihm doch klar sein. Er konnte mich nicht laufen lassen. Ich hatte verloren.
    Irgendwo draußen hörte ich Flipper bellen. Der Mann packte mich im Nacken und schleifte mich aus dem Raum in einen Flur mit Fenster. Von hier gingen zwei Türen ab, wahrscheinlich zu den Taubenschlägen. Wenn er nicht bewaffnet gewesen wäre, hätte ich jetzt eine Chance gehabt. So wäre es Selbstmord gewesen. Die Tauben, die sich gerade ein wenig
beruhigt hatten, flatterten erneut panisch hin und her. Auf meiner Stirn landete ein feuchter Klecks. Auch meine Hände waren vollgeschissen, und im Gesicht meines Feindes mischten sich Blut und Taubenkot.
    Ich presste meine Hand an die rechte Körperseite. Kein Schmerz. Aber Flüssigkeit. Warm. Es hörte nicht auf zu bluten. So fest ich auch presste, Blut rann mir durch die Finger. Doch meine Stimme klang klar und kräftig.
    »Er hat also gesagt, dass ich Sie dabei gefilmt habe, wie Sie einen Habicht gefangen haben? Mit seinem Handy? Diesen Film haben Sie gesucht in seinem Haus? Woher wollen Sie wissen, dass der Film nur auf dem Handy existiert? Wenn es Kopien gibt?«
    »Du gibst mir einfach alles.«
    »Woher wollen Sie wissen, was alles ist?«
    »Weil ich sonst deinen Hund hole. Oder dich.«
    Hatte ich doch eine Chance? Glaubte er wirklich, er käme davon mit seinen Drohungen?
    Er verstärkte seinen Griff. Unwillkürlich zog ich die Schultern hoch. So ein Kehlkopf ist schnell eingedrückt. Flipper bellte ohne Unterlass. Das stresste den Mann. Ein gestresster Täter war doppelt gefährlich. Das Messer blitzte auf im kalten Mondlicht.
    »Flipper, weg! Hau ab!«, brüllte ich und stellte ihn mir über eine Wiese galoppierend vor, mit weiten Sprüngen und waagrecht in der Luft stehender Rute, mit fliegenden Ohren und heraushängender Zunge.
    Ich hatte wenig Hoffnung, dass er das tun würde. Es war bestimmt ein Jahr her, seit ich diesen Befehl zum letzten Mal mit ihm trainiert hatte. Er hatte ihn nie zufriedenstellend befolgt,
sodass ich irgendwann aufgegeben hatte, ihm beibringen zu wollen, sich vor mir zu verstecken, so wie ich mich manchmal vor ihm versteckte. Doch ich hatte noch nie so gebrüllt wie eben. Das Bellen entfernte sich. Wurde leiser. Der Würgegriff kehrte zurück, und er riss mich an den Haaren nach hinten. Ich bebte vor Zorn und Hass und Empörung. Aber das genügte nicht, um die Tonne in meinem Rücken wegzustoßen. Er blutete

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