Alle Vögel fliegen hoch
Frau um Hilfe rufen. Auf eine solche Situation wartete ich seit Jahren. Das ist der Ernstfall, für den ich trainiere. Ich bin noch nie in eine wirklich bedrohliche Situation geraten. Wer eine defensive Kampfsportausstrahlung hat, dem passiert selten etwas. Mein Puls raste. Ich versuchte, die Rufe zu orten. Flipper stand wie elektrisiert neben mir. Ein Schrei. Schrill, gellend, erstickt. Flipper war schneller als ich. Eine große schwarze, wilde Bestie – brach er aus dem Unterholz, so erzählte Andrea mir später, ein einziges knurrendes
gefletschtes Gebiss, und dann sprang er los. Vielleicht ist doch etwas hängengeblieben aus den vielen Trainingsstunden, an denen er gezwungenermaßen teilnahm und die er mehr oder minder gelangweilt beobachtete. Jedenfalls schlug er den Angreifer mit seiner Breitseite zu Boden und dann in die Flucht. Flipper setzte ihm nicht nach, sondern sich neben Andrea, er leckte ihr über die Hände, dann hob er seine Schnauze dem nachtschwarzen mondlosen Himmel entgegen und heulte wie ein Wolf, damit ich ihn fand. Andrea hatte einen Schock, wobei sich der bei ihr anders äußerte als bei mir, sie weinte und zitterte. Ich rief den Notarzt und blieb, bis er sich um Andrea kümmerte. Zwei Tage später entdeckte ich in der Abendzeitung die Überschrift Hund schlägt Sex-Täter in die Flucht. Dummerweise mit einer ziemlich treffenden Beschreibung von Flipper und seinem Frauchen, die vielleicht in der Nähe vom Flaucher wohnten. Bevor uns Frau Feigl denunzierte, ob mit oder ohne Kotprobe zum DNA-Abgleich, meldete ich mich lieber selbst. Alle Münchner Tageszeitungen berichteten über den Helden auf vier Pfoten. Flipper wurde mit Andrea fotografiert, es wurde der übliche Teig zusammengeknetet aus den üblichen Rührstücken: Frau, allein, Nacht, dunkel, Gebüsch, Schreie, mutig, treu, heldenhaft, unerschrocken, Täter, Opfer, Flucht, Zivilcourage, wedeln. Eine Zeit lang traute ich mich kaum mehr auf die Straße, weil wir plötzlich prominent waren. Das legte sich schnell. Nicht bei Andrea. Sie lud mich zum Essen ein und zu einem Wellnesswochenende, und sie fragte mich, ob ich mit zum Wandern kommen wollte und zum Schwimmen. Ich sagte immer ja, weil ich glaubte, sie würde das brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Doch
Flipper hatte sie für mich ausgesucht, damit ich auf die Beine kam. Flipper hatte beschlossen, dass ich eine beste Freundin brauchte. Das würde ich natürlich niemals zugeben. Bis heute firmiert Andrea als Flippers Freundin und meine Bekannte. Das ist für alle Beteiligten akzeptabel, und ich gedenke nicht, etwas daran zu ändern, auch wenn mein Herz genauso freudig klopfte wie die Rute von Flipper, als wir zu dritt Richtung Parkdeck schlenderten. Flipper hatte klug gewählt, wen er rettete. Da ich mich prinzipiell von Psychologen fernhalte, schleuste er eine Psychologin durch die Hintertür in unser Leben. Ich hätte sie mir niemals ausgesucht, weil sie nicht zu mir passt. Sie ist ganz anders als ich. Auch äußerlich. Sie dunkel, ich blond, ihre Augen braun, meine blau, sie klein, ich groß. Die einzige Gemeinsamkeit, die wir haben, ist jene, dass wir Single sind. Ich glücklich, sie unglücklich. Daran ist zweifellos ihr Beruf schuld, bei dem Schuld immer eine Rolle spielt. Mit Psychologen hält man es beim besten Willen nicht aus. Da bleibt keine grüne Wiese grün. Vielleicht ist sie nämlich blau. Man will es nur nicht wahrhaben. Andrea glaubt bis heute, dass ihr bei dem Überfall nichts hätte passieren können, sie hätte mit dem Täter gesprochen – alles eine Frage der Kommunikation. Und vielleicht wäre der Täter tatsächlich irgendwann entnervt und verzweifelt weggelaufen, wenn sie das unglückliche Kind, das in ihm steckte, ausgebuddelt hätte.
Ich gab Andrea Zeit, um anzukommen und fragte die Checkliste ab. Wetter, Essen, Unterbringung, Mentalität der Teneriffen. Andrea vergab großzügig Sterne, während ich Richtung Autobahn abbog, und sah selbst aus wie einer. Ihre
braunen Augen hatten die südliche Sonne gespeichert, und die Meeresluft hatte die Depressionen ihrer Patienten aus ihrem Gesicht gesandstrahlt. Wie immer in ihrer Gegenwart fühlte ich mich aufgerufen, ihr zu beweisen, dass mir keinesfalls ein Platz in ihrer Kartei gebührte, wovon sie mich überzeugen wollte, seit ich ihr in einem unüberlegten Moment nach einer Flasche Wein einige Anekdoten aus meiner Vergangenheit erzählt hatte.
Jetzt schilderte ich cool meinen Spaziergang mit
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