Alle Vögel fliegen hoch
Hintertür.
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
Mir wurde noch heißer. Er durfte auf keinen Fall herausfinden, dass ich mich bei den Widmanns als Nachmieterin vorgestellt hatte. Er würde mich für eine Leichenfledderin halten. Nicht, dass mir das was ausgemacht hätte. Ich wollte es einfach nicht. Prinzipiell. Man musste ja nicht immer für alles gleich eine Begründung parat haben.
»Eine Freundin, mit ihr war ich vorhin hier…«
»Ach, jetzt schleppen Sie auch noch Ihre Freundinnen an den Tatort!«
Ich redete einfach weiter. »Sie hat mich gefragt, ob die Polizei die Tatwaffe gefunden hat. Da ist mir plötzlich dieser Ast eingefallen, und ich habe sofort bei Ihnen angerufen.«
»Das hätte Ihnen doch bereits am Sonntag einfallen können«, beharrte der Kommissar. Stur war er also auch.
»Am Sonntag war meine Freundin aber noch auf Teneriffa. Ich habe den besagten Ast für irgendein Stück Holz
gehalten. Klaus Hase ist schließlich vom Hochsitz gefallen, da braucht es wohl keine Tatwaffe, oder?«
»Wenn man vorher keinen Schlag abbekommen hat…«
Ruckartig blieb ich stehen. Ich musste mich nicht anstrengen, überrascht zu sein. Aus dem Mund des Kommissars klang es gewalttätig und brutal, nicht verletzt und traurig wie bei Martina Hase-Berg.
»Aber dann war es ja Mord!«, rief ich.
»Ja, Frau Fischer. Wir sprechen von einem Tötungsdelikt.« Auch der Kommissar blieb stehen, dicht neben mir. Sehr dicht. Ich spürte seinen Atem. Er roch nach Pfefferminze. »Und deswegen gefällt mir das überhaupt nicht, dass Sie sich ständig hier in der Gegend aufhalten.«
»Weil der Mörder an den Tatort zurückkehrt?«, fragte ich aufgeregt.
»Nein, das pflegen Mörder normalerweise nicht zu tun.«
»Aber im Fernsehen …«, rutschte mir heraus.
»Ja genau, Frau Fischer. Im Fernsehen ist das alles ganz anders. Aber das ist hier kein Fernsehen. Das ist echt, Frau Fischer. Ich kann Ihnen nicht vorschreiben, wo Sie Gassi gehen, aber es wäre mir lieber, Sie würden sich mal eine Weile aufs andere Ufer verlegen oder in München bleiben. Da ist es doch auch schön.«
»Unbedingt«, sagte ich schnell und ging weiter, weil mir so heiß war, so entsetzlich heiß. Ich schämte mich für meine dumme Bemerkung. Ich hatte ein Mordopfer gefunden. Ich dachte an Simon und das Fernglas. Sollte ich es erwähnen? War das ein wichtiger Hinweis? Oder eine falsche Spur, mit der ich den armen Kommissar und seine völlig überlastete Truppe auf eine falsche Fährte führte? Was genau sollte
ich sagen? Simon hat ein Fernglas, das ihm vielleicht nicht gehört. Vielleicht hatte er es den Widmanns geklaut oder von seinem Opa geschenkt gekriegt. Als ich ungefähr zehn war, hatte mich einmal eine Klassenkameradin bezichtigt, ich hätte ihr Federmäppchen gestohlen. Ich hatte es nicht gestohlen, doch je öfter ich von der Lehrerin und den Eltern der Kameradin verhört worden war, desto unsicherer wurde ich, und als mich meine Oma fragte, wusste ich die Wahrheit nicht mehr, weil die Lüge mit jeder Frage wahrer geworden war. Simon hatte bestimmt nichts mit dem Mord an Klaus Hase zu tun. Ich musste ihn da raushalten. Auch wenn in Felix Tixels Badezimmer zuweilen ein schwarzer Hengst weiden mochte, er war nicht nur Felix, er war auch der Kommissar, und ich kannte ihn nicht gut genug, um sicher zu sein, wann er der Kommissar und wann er Felix war, ob das überhaupt zwei waren.
»Da lang?«, fragte der Kommissar.
Ich nickte.
»Ist es weit?«
»Ich weiß nicht. Wie ich am Telefon schon gesagt habe, hätte ich den Ast auch alleine gesucht …«
»Auf keinen Fall!«
»Ich erinnere mich leider nicht, wo Flipper ihn zuletzt abgelegt hat, er hat ihn eine Weile herumgetragen, kreuz und quer«, gestand ich.
»Wichtig wäre für mich, wo genau er ihn gefunden hat. Dann könnte ich das K3, die Spurensicherung, dazuholen.«
»Ich weiß leider nicht, wo Flipper ihn gefunden hat, weil ich ja nicht dabei war.«
»Dann fragen wir ihn am besten, oder?« Der Kommissar
wandte sich an Flipper: »Zeig uns, wo du den Ast gefunden hast«, und ich konnte nicht erkennen, ob er sich über uns lustig machte. Flipper reagierte überhaupt nicht auf diese Anfrage. Er mochte den Kommissar, wie ich merkte, aber nur als staatenloses, also rudelfreies Individuum, im Verhältnis zu mir konnte er ihn nicht dulden.
»Wir versuchen es einfach, Frau Fischer«, sagte Felix Tixel sehr freundlich. Vielleicht spulte er eine Unterrichtseinheit ab: Sprechen Sie motivierend und
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