Alle Vögel fliegen hoch
Fischer.« Er dachte kurz nach und sagte dann doch etwas. »Es geht um das Motiv. Warum jemand getötet wurde«, formulierte er ganz allgemein.
»Also aus Hass oder Geldgier oder Rache, meinen Sie so etwas?«
»Und Liebe«, fügte der Kommissar hinzu.
»Liebe?«, wiederholte ich.
»Viele Morde begannen mit einer Liebesgeschichte. Viele Menschen werden Opfer ihrer Leidenschaften.«
Ich nickte. Er kannte sich aus. Liebe kann tödlich enden. Ich brauchte mir keine Sorgen um ihn zu machen. Ihm würde so was nicht passieren. Wie mir. Wir wussten, worauf es ankam.
Der Kommissar sprach in sachlichem Tonfall weiter. »Es gibt nur sehr wenige Menschen, die aus Lust am Töten morden. Und selbst das ist ein Motiv.«
»Die meisten Morde sind doch Beziehungstaten, oder?«, fragte ich neugierig. »Man ist wütend auf denjenigen, den man am liebsten umbringen möchte oder er hat einem wehgetan, etwas weggenommen, einen betrogen. Ich meine, es muss doch einen Grund geben.«
»Genau«, nickte der Kommissar. »Das Motiv. Man schätzt, dass etwa neunzig Prozent aller Morde sogenannte Beziehungsdelikte sind.«
»Klar. Deshalb lebt man auch am sichersten ohne Beziehung. «
Der Kommissar musterte mich amüsiert.
»Kommt drauf an«, er zögerte, als wollte er noch etwas hinzufügen und wurde dann wieder sachlich. »Genau hier liegt das Problem im aktuellen Fall. Wenn ein Opfer viele Beziehungen hatte, in einem sozialen Netzwerk lebte, dann findet sich früher oder später eine Spur. Wenn jemand jedoch sehr zurückgezogen lebte …«
»Klaus Hase war ein zurückgezogener Mensch?«
»Es sieht ganz danach aus.«
»Und wenn ein Mord ohne Motiv passiert?«
»Das geht nicht. Jeder Tat liegt ein Motiv zugrunde, und sollte es Langeweile sein oder eine allgemeine Frustration, die der Täter durch die Tat abschaffen möchte…«
»Wie diese jugendlichen Gewalttäter in den U- und S-Bahnen?«
Der Kommissar sagte nichts, doch die kleine Falte in seinem linken Mundwinkel wurde tiefer, und ich spürte, dass ihm diese Verbrechen nahegingen, weil er das empfand, was den Tätern fehlte: Mitgefühl. Mein Kommissar glaubte an das Gute, obwohl er schon sehr viel Abscheuliches gesehen
haben musste, er war angetreten, die Welt zu retten, und ich hätte gern gewusst, wie tief diese Sehnsucht in ihm stak. Tief dort drin hätte ich ihn gern kennengelernt. Nicht als Kommissar, sondern als Felix. Und wenn er so wäre, wie ich glaubte, dass er sein könnte, würde ich ihn dort niemals berühren, denn einer wie er ließ keinen auf diese Koppel, weil er vielleicht nicht mal wusste, dass es ein Gatter gab oder dass man drüberspringen konnte. Rein und raus.
»Und wenn es keine Verbindung zwischen einem Täter und dem Opfer gibt, ist es schwieriger, das Motiv zu finden?«
»Ja.«
»Sie wissen also nicht, warum Klaus Hase von dem Mörder so gehasst wurde. Hatte er keine Freundin?«
»Nein.«
»Und Familie?«
»Lebt nicht hier.«
»Arbeit?«
»Frau Fischer. Verhören Sie mich?«
»Ja«, sagte ich knapp.
»Dann verlange ich einen Anwalt«, erwiderte er.
»Ich würde Ihnen so gerne helfen«, sagte ich leise.
»Wenn wir den Ast finden und wenn er sich als Tatwaffe herausstellt, dann haben Sie uns sehr geholfen. Dann können wir vielleicht DNA sicherstellen.«
Auf einmal war ich überzeugt, am Freitag von links aus dem kleinen Waldstück gekommen zu sein. Ich wollte, nein, ich musste den Ast finden. Flipper musste ihn finden. Am Rand des Wäldchens erkannte ich den Trampelpfad wieder, wo Flipper verschwunden war. Vielleicht. Hoffentlich.
»Ich würde es jetzt mal probieren«, sagte ich und setzte mich ins warme, duftende Gras. Der Kommissar setzte sich neben mich. Flipper, der immer ein paar Meter vor uns hin und her gelaufen war, kam sofort zu mir.
»Flipper, gut aufpassen!«
Er spitzte die Ohren und betrachtete mich gespannt.
»Der Stock, Flipper!« Seine Ohren zuckten.
»Der Stock vom Freitag. Such!«
Flipper spurtete los und warf mir zehn Sekunden später den nächstbesten Stock in den Schoß. Das hatte ich befürchtet.
»Versuchen Sie es doch mal so, wie Sie es mir vorhin erzählt haben«, bat der Kommissar mich.
»Flipper, sitz.«
Ich überkreuzte meine Beine zum halben Lotussitz, weil das meine Meditationshaltung ist, schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Es war nicht leicht, denn meine ganze rechte Körperseite stand in Flammen. Ich beschwor ein Bild des Astes herauf und schob es mit einem Mausklick in
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