Alle Vögel fliegen hoch
fragen.«
»Danke.« Er trank den heißen Kaffee in einem großen Schluck. »Wunderbar!«
»Noch einen?«
Er schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Bitte wiederholen Sie so detailliert wie möglich, was Simon gesagt hat«, bat er mich. »Ich will das mit einer Kinderpsychologin besprechen. Ich befinde mich in einem Dilemma. Ich weiß nicht, ob ich meine Kollegen jetzt sofort informieren oder noch warten soll.«
»Was spricht wofür?«, fragte ich.
»Wenn Simon das macht, was am Vernünftigsten wäre, nämlich schnurgerade heimfahren und dort auch wirklich ankommen, wecke ich mit einer solchen Aktion schlafende Hunde. Der Junge kriegt Ärger. Von seinen Eltern. Dieses kleine Ausreißen – und welcher Bub läuft nicht mal weg, wenigstens ein bisschen bis zur nächsten Ecke – wird aktenkundig und hat eventuell Folgen. Jugendamt etceterapepe. Wenn ich allerdings noch warte und Simon nicht nach Hause kommt, dann habe ich ein Riesenproblem, einmal abgesehen davon, dass Simon wirklich in Gefahr geraten könnte – und das macht mir Sorgen. Heute ist Samstag, und ich habe keine Ahnung, ob Simon sich in der Stadt auskennt, hat er Verwandte hier, fährt er öfter allein mit der S-Bahn, hat er ein Handy dabei, Geld, wie vertrauensselig ist er, will er etwa per Anhalter nach Hause fahren? Ich brauche die Handynummer seiner Eltern. Am besten, ich schick einen Wagen zur S-Bahn«, dachte der Kommissar laut, schaute auf die Uhr. »Er hat eine halbe Stunde Vorsprung. Kennt er sich in der Stadt aus?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und gerade an diesem Abend! Wir haben heute ein Konzert im Olympiapark und ein Fußballspiel in der Arena, in der Fußgängerzone ist eine Schlägerei im Gang, und dann findet zu allem Überfluss noch diese Konferenz im Hotel Bayerischer Hof statt, dieses Wochenende ist die Hölle in München, und ich weiß nicht, wie viele Leute ich kriegen kann, wenn ich…«, er schlug die Hände vors Gesicht. Schöne Hände. Die ich gern gestreichelt hätte. Felix musterte mich irritiert. Es war mir wirklich passiert. Eine kleine zarte Berührung. Ich trat einen Schritt zurück.
»Und Sie glauben, die Kinderpsychologin kann Ihnen helfen? «, fragte ich.
»Ich hoffe es.«
Ich ging noch einen Schritt zurück. »Dann erzähle ich mal, woran ich mich erinnere.«
»Bitte.«
Konzentriert hörte mir der Kommissar zu. Er saß in meiner Küche, dort, wo man beispielsweise frühstückte. Sein Kind schlief in meinem Bett. Ich war erleichtert, dass ich mich wirklich gut an den Ablauf mit Simon erinnerte. Ich konnte sogar über Arbeit und Depressionen referieren. Nur das Geständnis vergaß ich. So eine Kleinigkeit konnte im Eifer des Gefechts schon mal unter den Tisch fallen.
»Das klingt«, sagte der Kommissar, »als hätte er vor irgendetwas Angst.«
»Ja. Ich glaube, er hat Angst, allein in einem Bett zu schlafen. «
»Das haben viele Kinder.«
»Die laufen aber deswegen nicht weg von daheim.«
»Wovor hat Simon besonders große Angst? Was ist dein, Ihr Eindruck?«
»Vor Geistern«, sagte ich.
»So kommt es mir auch vor«, nickte der Kommissar. »Er hat Sie mehrmals nach der Beretta gefragt«, er versuchte ein Lächeln, das roh blieb, »für die Sie noch immer keinen Waffenschein haben.«
Auch mein Grinsen misslang.
»Wenn seine Fantasie mit ihm durchgegangen ist?«
»Das klingt plausibel.«
»Ich glaube, ich habe solche Hefte auch gelesen als Junge,
aber in meinem Kinderzimmer habe ich mich doch wohler gefühlt als bei einem Geisterjäger. Daheim ist man doch sicher, oder?«
Wir schauten uns an. Wir dachten das Gleiche.
»Besonders schön hat er es nicht daheim, das stimmt, aber seine Mutter ist eine warmherzige Frau, also, das war mein Eindruck … Und darauf kommt es doch auch an, oder?«
Ich nickte. Es gefiel mir, dass er viele seiner Sätze mit oder beendete. So als lege er Wert auf meine Meinung.
Der Kommissar sprang auf. »Und er hat das Fernglas!«, rief er.
»Da«, sagte ich und deutete auf den Tisch.
»Das Fernglas und Angst. Große Angst«, sagte der Kommissar und ging auf und ab, auf und ab, bis er sich ruckartig zu mir drehte. »Und wenn«, rief er, »Simon die Leiche gefunden hat? Vor dir, Franza?«
Ich zuckte zusammen. Wie oft wollte er mich noch duzen? Mochte er mich wieder? Sollte ich ihm das Du anbieten? War das mein Part? Oder hatte das alles nichts zu bedeuten?
»Wenn er«, rief der Kommissar, »ohne nachzudenken das Fernglas genommen hat und weggelaufen ist. Da konnte er doch
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