Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
Vom Netzwerk:
ich wollte keine Kinder. Mir reichte mein Kind light. Echte Kinder brauchten zudem einen Vater.
     
    »Was willst du mal werden?«, fragte ich Simon.
    »Bundesliga oder Bundeskanzler.«
    »Gar nicht blöd!«, staunte ich.
    »Hab mich noch nicht entschieden«, erklärte er lässig.
    »Hm.«
    »Bundesliga macht vielleicht mehr Spaß, aber bei Bundeskanzler fliegt man mehr rum.«
    »Bist du schon mal geflogen?«
    »Nächstes Jahr vielleicht. Und Flipper?«
    »Noch nie.«
    »Weißt du, man kann auch fliegen, ohne zu fliegen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Geister. Die sind überall. Da wird es erst kalt«, Simon deutete ein Zittern an, »und daran merkt man, dass sie da sind. Aber hier kann ja nichts passieren, oder? Hier sind wir sicher.«
    Zitterte er jetzt wirklich, oder spielte er mir etwas vor?
    »Total sicher«, sagte ich mit der tiefsten Stimme, die meinen
Bändern zu Gebote stand. Was verdammt noch mal war hier los?
    »Du sag mal, Simon, das Fernglas … Wieso willst du mir das schenken?«
    »Damit du schon von weitem siehst, dass ich da bin.«
    »Und woher hast du es? Das war doch bestimmt recht teuer? Oder hast du es gefunden?«
    »Ich habe mir überlegt, ob ich es in die Schule mitnehme – zum Abschreiben. Letzte Woche haben wir vier Proben gehabt. An jedem Tag eine!« Empört schaute er mich an.
    »Und worüber?«, fragte ich. Nicht, dass mich das interessiert hätte, doch vielleicht war es eine erfolgversprechende Methode, herauszufinden, was ich wissen wollte, indem ich Simon einfach reden ließ.
    »Zum Beispiel über die Bedeutung der Arbeit.«
    »Aha, und was ist die?«
    Simon ratterte los. »Arbeit ist eine geistige oder körperliche Aktivität, um ein wirtschaftliches Ziel zu erreichen. Man arbeitet für Existenzsicherung und Verdienst, für Erfolgserlebnis und für Lebensgestaltung. Die reichen Fuzzis machen nur Lebensgestaltung. Das ist wichtig, sonst kriegen sie Depressionen, und dann müssen sie Tabletten schlucken. «
    »Da hast du bestimmt eine gute Note bekommen?«
    »Ist noch nicht raus.«
    »Und wenn du eine gute Note hast, kriegst du dann was Besonderes von deinen Eltern… ein Fernglas vielleicht?«
    Simon presste die Lippen aufeinander und starrte an die Wand. Er war sehr blass. Nein, Geduld gehörte nicht zu meinen Stärken.

    »Glaubst du, ich muss ins Gefängnis?«, stieß er unvermittelt hervor. Er wurde noch blasser, bleich. Wahrscheinlich leuchteten wir nun um die Wette. Ich wollte nicht, dass er weitersprach. Ich wollte mit all dem nichts zu tun haben. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Kommissar anzurufen. Vielleicht hätte ich Simon einfach nach Hause fahren sollen, nein, ich hätte ihn zu Andrea bringen sollen, die kannte sich mit so was aus. Er war doch ein Kind.
    »Wie kommst du denn auf so eine Idee?«, fragte ich. Locker sollte es rüberkommen. Doch ich bekam kaum Luft.
    »Weil, weil, weil…«, schluchzte er.
    »Simon …«
    Der Junge japste und weinte und war überhaupt nicht mehr zu beruhigen. Ratlos schaute Flipper mich an. Ich hob die Schultern. Ich wusste auch nicht weiter. Rechts ich, links Flipper, versuchten wir Simon zu trösten, der keinen einzigen Satz herausbrachte, immer nur »weil…« stammelte und manchmal »weil ich …«
    Ich nahm Simon in den Arm, sein Rücken war angespannt und das Zucken in seinem Körper hörte nicht auf. Eine lange Rotzglocke troff auf seinen Oberschenkel; mit einem Geschirrtuch wischte ich sie weg und hielt ihn fest und wiegte ihn, und auf einmal hörte ich mich summen, so wie meine Oma für mich gesummt hatte, wenn es wirklich schlimm war, ganz schlimm. Flipper brummte dazu und schleckte Simon hin und wieder über die Hand, und ich summte, und allmählich wurde das Zucken zarter. »Ich bin schuld, weil der tot ist. Ich hab das gemacht!«, flüsterte Simon.
    Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, ich wollte das nicht hören, nichts davon wollte ich hören.

    »Simon«, begann ich, ohne zu wissen, wie ich weiterreden sollte.
    Die Türklingel erlöste mich. Sie und Flipper schlugen gleichzeitig an.
    »Wer kommt da?«, fragte Simon erschrocken.
    »Ich schau mal«, sagte ich, als wüsste ich es nicht.
    Der Kommissar stand schon vor meiner Tür, und im Arm trug er eine große Puppe. Wahnsinn, war die bayerische Polizei gut ausgerüstet, klar, er hatte Spielzeug dabei. Kindgerecht. Genial!
    »Hallo Frau Fischer«, sagte der Kommissar.
    »Hallo«, sagte ich und riss die Augen auf. Die Puppe lebte.
    »Meine Tochter«, sagte der

Weitere Kostenlose Bücher