Alle Weihnachtserzählungen
vorher die Kälte zu Eis macht oder der Wind uns wegbläst oder die Dunkelheit verschluckt.“
Die stille Maus hatte ihr ruhiges Gesicht an seine Seite gelegt und schweigend seinen Arm ergriffen, ehe er zu sprechen aufhörte.
„Komm, meine Liebe“, sagte der alte Mann. „Mr. Redlaw setzt sich sonst nich eher ans Essen, bis es kalt is wie der Winter. Ich hoffe, Sie entschuldigen mein Abschweifen, Sir, und ich wünsche Ihnen ’ne gute Nacht und noch mal frohe …“
„Bleiben Sie!“ sagte Mr. Redlaw und nahm seinen Platz am Tisch ein, mehr, wie es nach seinem Verhalten aussah, um den alten Wächter zu beruhigen, als daß er an seinen Appetit dachte.
„Noch einen Augenblick, Philip. William, Sie wollten doch gerade etwas erzählen, was Ihrer trefflichen Frau zur Ehre gereicht. Es wird ihr nicht unangenehm sein zu hören, wie Sie sie loben. Worum ging es?“
„Nun, sehen Sie, so is das, Sir“, erwiderte Mr. William Swidger und schaute in arger Verlegenheit zu seiner Frau hin. „Mrs. William blickt mich so an.“
„Aber Sie fürchten Mrs. Williams Blick nicht?“
„Wie, nein, Sir“, entgegnete Mr. Swidger, „das sage ich ja. Er sollte mich nich ängstlich machen. Er wäre nich so sanft gewesen, wenn er die Absicht gehabt hätte. Aber ich wollte nich gern – Milly! – er, du weißt. Unten in dem Viertel.“ Mr. William, der hinter dem Tisch stand und verwirrt zwischen den daraufstehenden Gegenständen herumwühlte, richtete beschwörende Blicke auf Mrs. William und machte heimliche Zeichen mit Kopf und Daumen gegen Mr. Redlaw, als wollte er sie zu ihm hinlocken.
„Er, du weißt, Liebling“, sagte Mr. William. „Unten in dem Viertel. Erzähle, meine Liebe. Im Vergleich zu mir bist du Shakespeares Werke. Unten in den Häusern, weißt du, Liebling. – Student.“
„Student?“ wiederholte Mr. Redlaw und hob den Kopf.
„Genau das sage ich, Sir!“ rief Mr. William, äußerst lebhaft beipflichtend. „Wenn’s nich der arme Student da unten in dem Viertel wär, warum sollten Sie’s aus Mrs. Williams Mund hören wollen? Mrs. William, meine Liebe – das Elendsviertel.“
„Ich wußte nicht“, sagte Milly mit ruhiger Offenheit und ohne jegliche Hast oder Verwirrung, „daß William etwas darüber gesagt hat, sonst wäre ich nicht gekommen. Ich bat ihn, es nicht zu tun. Es ist ein kranker junger Mann, Sir – und sehr arm, fürchte ich –, der zu krank ist, als daß er während der Feiertage nach Hause fahren könnte, und er wohnt, ohne daß es jemand weiß, in einer Art Herberge für Männer da unten im Jerusalem-Viertel. Das ist alles, Sir.“
„Warum habe ich nie von ihm gehört?“ fragte der Chemiker und erhob sich schnell. „Warum hat er mir nicht seine Lage geschildert? Krank! – Geben Sie mir Hut und Mantel. Arm! – Welches Haus? Welche Nummer?“
„Oh, Sie dürfen nicht dorthin gehen, Sir“, sagte Milly, ließ ihren Schwiegervater los und trat ihm mit ihrem gefaßten, kleinen Gesicht und gefalteten Händen ruhig entgegen.
„Nicht dorthin gehen?“
„Du liebe Güte, nein“, sagte Milly und schüttelte mit äußerster Entschiedenheit den Kopf. „Nicht auszudenken!“
„Was meinen Sie? Warum nicht?“
„Nun, sehen Sie, Sir“, sagte Mr. Swidger überzeugend und vertraulich, „genau das sage ich ja. Verlassen Sie sich drauf, der junge Mann hätte seine Lage keinem Mann geschildert. Mrs. William hat sein Vertrauen errungen, aber das is ganz was andres. Alle vertrauen sich Mrs. William an, alle verlassen sich auf sie. Ein Mann, Sir, hätte kein Sterbenswörtchen aus ihm rausgekriegt, aber eine Frau, Sir, und noch dazu Mrs. William!“
„In dem, was Sie sagen, William, liegen gesunder Menschenverstand und Takt“, erwiderte Mr. Redlaw, als er das sanfte und gefaßte Gesicht neben seiner Schulter beobachtete. Während er den Finger auf den Mund legte, drückte er ihr heimlich seine Geldbörse in die Hand.
„Du liebe Güte, nein, Sir!“ rief Milly und gab sie ihm zurück. „Immer schlimmer! Nicht im Traum dran zu denken!“
Sie war eine so gesetzte, sachliche Hausfrau, und die augenblickliche Hast bei dieser Ablehnung brachte sie so wenig aus dem Gleichgewicht, daß sie einen Moment später ein paar Blätter ordentlich auflas, die unter der Schere und von der Schürze herabgefallen waren, als sie die Stechpalmen ordnete.
Als sie sich aus ihrer gebeugten Haltung aufrichtete und dabei merkte, daß Mr. Redlaw sie noch zweifelnd und erstaunt betrachtete, wiederholte sie
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