Alle Weihnachtserzählungen
bringen könnte. Während sein Jackett am Kragen und auf der Brust ein etwas flatterhaftes und halbangezogenes Aussehen hatte, war ihr Mieder so friedlich und gefällig, daß sie darin vor den gröbsten Leuten Schutz gefunden hätte, wenn sie welchen gebraucht hätte. Wer hätte es übers Herz bringen können, solch ein friedliches Herz vor Kummer bersten, vor Angst pochen und vor Scham heftig schlagen zu lassen! An wen hätte nicht seine Ruhe und Gelassenheit gegen Belästigungen appelliert wie der Schlaf eines unschuldigen Kindes.
„Natürlich pünktlich, Milly“, sagte ihr Mann und nahm ihr das Tablett ab, „oder es säh dir nicht ähnlich. Hier is Mrs. William, Sir! – Er sieht heute abend einsamer als sonst aus“, flüsterte er seiner Frau zu, als er das Tablett nahm, „und überhaupt geisterhafter.“
Ohne Anzeichen von Hast oder Aufsehen und ohne sich selbst hervorzutun – so still und ruhig war sie –, stellte Milly die Speisen, die sie mitgebracht hatte, auf den Tisch. Mr. William hatte lediglich, nachdem er viel geklappert hatte und herumgelaufen war, von einem Schüsselchen Soße Besitz ergriffen, die zu servieren er bereit war.
„Was ist das, was der alte Mann im Arm trägt?“ fragte Mr. Redlaw, als er sich zu seiner einsamen Mahlzeit niederließ. „Stechpalmen, Sir“, antwortete Milly mit ruhiger Stimme. „Das isses, was ich selbst sage, Sir“, warf Mr. William ein und zeigte mit der Sauciere darauf. „Die Beeren sind dieser Jahreszeit angemessen! – Braune Soße!“
„Weihnachten kommt, und wieder ist ein Jahr vergangen“, murmelte der Chemiker mit einem traurigen Seufzer. „Mehr Zahlen in der länger werdenden Summe von Erinnerungen, die wir hervorrufen und an denen wir bis zu unserer Qual arbeiten, bis der Tod alle wahllos durcheinanderbringt und auslöscht. So, Philip!“ brach er ab und hob seine Stimme, als er sich an den alten Mann wandte, der mit seiner glänzenden Last im Arm abseits stand, von der die stille Mrs. William kleine Zweige nahm, sie geräuschlos mit der Schere zurechtschnitt und damit das Zimmer schmückte, während ihr alter Schwiegervater sehr interessiert der feierlichen Handlung zusah.
„Stehe zu Diensten, Sir“, erwiderte der alte Mann. „Hätte eher was sagen sollen, Sir, aber kenne Ihre Art, Mr. Redlaw – bin stolz, das zu sagen –, und warte, bis ich angesprochen werde! Frohe Weihnacht, Sir, und ein glückliches neues Jahr, und das noch oft. Habe selber ziemlich viele erlebt – haha! – und kann mir die Freiheit erlauben, sie zu wünschen. Ich bin siebenundachtzig!“
„Haben Sie so viele frohe und glückliche erlebt?“ fragte der andere.
„Ja, Sir, sehr viele“, erwiderte der alte Mann.
„Hat sein Gedächtnis im Alter nachgelassen? Das könnte man jetzt erwarten“, sagte Mr. Redlaw und wandte sich, leiser sprechend, an den Sohn.
„Kein bißchen, Sir“, entgegnete Mr. William. „Genau das sage ich auch immer, Sir. Kein Gedächtnis war jemals so wie das meines Vaters. Er is der wundervollste Mensch auf der Welt. Er weiß nich, was Vergessen bedeutet. Das können Sie glauben, ich mach immer genau dieselbe Bemerkung zu Mrs. William!“
Mr. Swidger, der den artigen Wunsch hegte, sich bei jeder Gelegenheit zu fügen, äußerte dies, als läge nicht der geringste Widerspruch darin und als würde alles mit uneingeschränkter Zustimmung gesagt.
Der Chemiker schob seinen Teller weg, stand vom Tisch auf und ging durch das Zimmer dahin, wo der alte Mann stand und einen kleinen Stechpalmenzweig in seiner Hand betrachtete.
„Es erinnert an die Zeit, als viele jener Jahre damals alt und neu waren“, sagte er, beobachtete ihn aufmerksam und berührte ihn an der Schulter. „Nicht wahr?“
„Oh, viele, viele!“ sagte Philip, halb aus seinen Träumereien erwachend. „Ich bin siebenundachtzig!“
„Froh und glücklich?“ fragte der Chemiker mit leiser Stimme. „Froh und glücklich, alter Mann?“
„Vielleicht so groß, nich größer“, sagte der alte Mann, hielt seine Hand etwa in Kniehöhe und sah seinen Fragesteller zurückschauend an, „war ich, als ich Weihnachten zum erstenmal erlebte! Ein kalter, sonniger Tag war’s, gingen draußen spazieren, als mir jemand erzählte – es war meine Mutter, so wahr ich hier stehe, obwohl ich nich mehr weiß, wie ihr seliges Gesicht aussah, denn sie wurde krank und starb in jener Weihnachtszeit –, daß sie Nahrung für die Vögel waren. Der liebe kleine Kerl – das bin ich, Sie verstehn
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